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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Du weißt, wie das Geld im Werthe gesunken ist, und weißt auch, daß ich für Deine Schwester mit sorgen muß.

Glückselig bin ich, daß Du zu Pfingsten kommst, es wird für mich der Sonnenschein der Festtage werden. Fritz ist hier; er sagt, er habe Dich selten oder gar nicht gesehen in Berlin. Ich bitte Dich innig, sei verträglich mit ihm, Ihr seid doch jetzt keine Kinder mehr. Behüte Dich Gott, Herzensliebling! Immer Deine Dich wie eine Mutter liebenbe Tante
Friederike Trautmann.“ 

Und Julia schrieb auch:

„Lieber Frieder! Ich schicke Dir acht Thaler, die ich mir erspart habe. Bitte, bitte, schreibe nun aber Tante nicht so bald wieder um Geld; sie hat, glaube ich, ernstliche Sorgen. Es that mir recht weh, in Deinem heutigen Briefe an mich zu lesen, daß Du gar nicht auskommst. Wärst Du doch. nach Tantes Wunsch, lieber Ingenieur oder Beamter geworden als Offizier! – Aber da ist nun nichts zu ändern. Die Tante sieht recht elend aus. Sag’ ihr nicht, daß ich Dir Geld schickte, ich habe es mir heimlich verdient! Ich wollte so gern Malstunden nehmen dafür, aber so ist’s auch gut verwendet. Ich danke Dir auch für Deinen Glückwunsch und bin wie immer

Deine treue Schwester Julia.“ 

Und diese beiden Schreiben brachte in Berlin ein Offiziersbursche seinem Herrn eines Sonntagsmorgens gegen zehn Uhr ans Bett, nebst einer Geldanweisung. Das verdrießliche Gesicht des hübschen jungen Lieutenants ward ein wenig heiterer, als er die Goldstücke klimpern hörte, die der Briefträger im Nebenzimmer, einem eleganten kleinen Salon, auf den Tisch zählte, der noch die Reste eines feinen Abendessens trug.

„Na, Gott sei Dank! Wenig genug ist’s freilich!“ murmelte er. Die Briefe ließ er vorläufig liegen, sie interessierten ihn beide nicht. Er haßte überhaupt sogenannte Familienbriefe. Die Zärtlichkeiten der alten Tante waren ihm ungemüthlich, und seine Schwester – – großer Gott, dieser dicke Brief! Was mochte sie wollen? Er gedachte dieser Schwester immer mit einem Gemisch von Mitleid und Furcht. Mitleid, weil sie eine so freudlose Jugend verlebt hatte, und Furcht, weil sie ihm, wenn sich nicht zufällig ein Mann für sie fand, eines schönen Tages zur Last fallen konnte. Wozu dieses Mädel überhaupt in die Welt kam? So unnütz wie möglich war ihre Existenz von vorn herein!

Er erinnerte sich ganz deutlich an den Tag, an dem die Kleine geboren wurde, und daß es an eben diesem Tage noch knapper als gewöhnlich im Vaterhaus zuging. Und jetzt, jetzt war die „Alte“ daheim doch auch nur so verdammt geizig, weil eben diese Schwester versorgt sein wollte! Na, zu Pfingsten mußte er also heim, es half nichts, ewig konnte er sich um den Besuch nicht drücken. Uebrigens besaß der Gedanke nichts Allzuschreckliches für ihn, denn ein Pfingsten am Rhein hat seine Reize, und die Weiber konnten doch schließlich nicht verlangen, daß er den ganzen Tag bei ihnen im Garten sitzen sollte. Bis zur Dampferstation waren es vom Hause aus nur wenige hundert Schritte, und wenn man erst da oben auf dem Verdeck stand, dann adieu Langeweile!

so überlegend, verzehrte er sein Frühstück; dann schrieb er an einen Kameraden, daß er die Einladung zu dem fidelen kleinen Souper heute abend nach dem Theater anzunehmen gedenke; beauftragte ferner den Burschen, eine bestimmte Sorte Chokoladebonbons, die Lieblingsnäscherei einer bekannten Dame, sowie einen Strauß rosa Rosen mit Maiglöckchen vermischt, die Lieblingsblumen einer anderen bekannten Dame, zu besorgen, zog sich eine eben vom Schneider gekommene moderne Civilkleidung an und begab sich in ein vornehmes Restaurant zum Diner, um ebenso vorzüglich als theuer zu speisen.

Tante Riekchen aber schloß am Pfingstheiligabend unter Thränen der Freude ihren „lieben Bub’“ in die Arme und schob seine matten Augen und seine blasse Gesichtsfarbe auf die viele Arbeit, die sein Kommando mit sich brachte, und auf die ungesunde Berliner Luft. Sie hatte seine Lieblingsgerichte bereitet und die letzten Flaschen Markobrunner aus dem Keller heraufgeholt, und Julia hatte den Tisch im Garten drunten gedeckt und einen duftenden Pfingstfliederstrauß darauf gestellt.

Sie war so glücklich! Der Bruder hatte sie erstaunt angesehen, als sie ihm entgegenkam mit leicht gerötheten Wangen und den seltsamen Augen, die so glänzend und so sammetbraun unter den Wimpern hervorblickten; mit den Purpurlippen hinter denen die prächtigen Zähne schimmerten. Er hatte nie gewußt, daß sie solche Perlenzähne besaß, er hatte sie aber früher auch nie lächeln sehen, und sie lächelte jetzt, wie glückliche Menschen thun in Erinnerung an etwas Süßes, Schönes, Wundervolles.

„Grüß Gott, Frieder!“ Es klang so frisch; er begriff nicht, daß dieses Mädchen die kleine scheue vielgescholtene Mamsell Unnütz sei, die er heimlich gestoßen und gepufft und der er kein gutes Wort gegönnt hatte all sein Lebtag.

Sie trng es ihm jedenfalls nicht nach, sie war wie eine echte treue Schwester für seine Behaglichkeit besorgt – war sie doch so glücklich, und glückliche Menschen können nicht anders als gut sein. Und mit wie wenigem war sie glücklich! Wie arm waren doch eigentlich ihre Freuden! Es glaubt gar keiner, welch ein genügsames Ding eine Mädchenliebe ist. Wenn sie in aller Morgenfrühe aufstand, um die Zimmer zu ordnen, war es so köstlich, über das Treppengeländer zu lauschen, ob er schon durch den hallenden Flur nach dem Garten schritt, zum Rhein hinunter. Es war so schön, ihm ein paar Stunden später im Garten zu begegnen und einen freundlich ernsten Gruß von ihm zu erhalten. Nicht eiumal die Hand reichten sie sich, wozu auch? Julia verstand ihn; er war noch ein armer Doktor ohne Praxis, wie hätt’ er da um sie werben können? Er hatte ja einmal ganz richtig zu seiner Mutter gesagt, als die beiden in der Laube saßen und sie, die Julia, vorbeiging, um nach den Gemüsebeeten zu sehen: „Du wirst doch wohl einsehen, Mutter, daß ich vor allen Dingen hier erst festen Fuß fassen muß in meinem Beruf. Laß mich vorläufig mit allem anderen in Ruh’; es kommt jedes zu seiner Zeit, auch das Heirathen.“

Und nun gar die Tante! In ihrem ganzen Leben war die gestrenge Frau noch nicht so gnädig gegen Mamsell Unnütz gewesen als in diesem herrlichen Frühjahr. Sie rief abends unter dem Fenster nach dem Julchen, damit sie in die Laube komme; und wie flog dann das Mädchen die Treppe hinunter mit ihrem Arbeitskorb. Es war sogar einmal geschehen, daß die Frau Rath dem vielgeplagten Kinde den Berg zu stopfender Strümpfe abgenommen hatte, damit die Jugend nach der Au hinüberrudern konnte, der Doktor, Therese und Julia. Und wie wundervoll war die Fahrt gewesen! Der Doktor hatte gesungen – Thereschen ließ nicht nach, ihn zu bitten – allerhand Trauriges und Uebermüthiges durcheinander, und schließlich ein Lied, darin es hieß:

„Wo ein Röschen steht,
Wo ein Vorhang weht,
Wo am Ufer Schiffe liegen,
Wo zwei Augen braun
Uebern Strom hinschau’n,
O, da möcht’ ich fliegen, fliegen!"

Und vor ihrem Fenster drüben stand ein Rosenstöckchen, und der leichte Vorhang pflegte lustig hinauszuflattern in die Lenzluft, und waren nicht ihre Augen braun? Sie sann vor sich hin und ließ die Wellen durch ihre Finger gleiten und sah die leuchtenden blauen Mädchenaugen nicht, die den Sänger anblickten, lange und lächelnd.

Thereschen Krautner war eine hübsche und sehr elegante junge Dame. Man merkte den gediegenen Reichthum ihres Vaters an jedem Fältchen ihrer Kleidung. Sie war voll und doch zierlich gewachsen, einen halben Kopf kleiner als Julia, hatte kleine, sehr reizend beschuhte Füße und rosige runde Händchen, die in Handschuhen mit zahllosen Knöpfen steckten. Ihre Toilette fertigte ein „erster“ Schneider in Frankfurt; sie besaß ein „Boudoir“ mit seidenbezogenen Wänden und den zierlichsten Möbeln, einen Papagei und einen Lieblingshund und schaltete in dem schönen Landhaus ihres Papas als unumschränkte Herrin. Kurz und gut, Therese war ein verwöhntes Kind, deren einziger Kummer darin bestand, daß sich Papa noch gar nicht die Manieren des ehemaligen Maurergesellen abgewöhnen konnte, der vor vierzig Jahren barfuß und mit dem Ränzel auf dem verstaubten Kittel in ein thüringer Städtchen eingewandert und dort mit der Zeit Meister und als solcher Bauunternehmer geworden war, und zwar mit so großem Glücke, daß ihm die Goldstücke nur so ins Haus regneten. „Das Gold liegt an der Straße, das ist bei mir wahr geworden,“ pflegte er zu sagen, „ich hab’s dem Nest auch nicht angesehen, als ich einzog dort, daß es sich nachmals zu einem großartigen Badeort auswachsen würde. Und dort ist kein Häuschen und kein Haus, das ich nicht gebaut hätt’.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 678. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_678.jpg&oldid=- (Version vom 9.3.2023)