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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Die ganze Bewohnerschaft des Gehöftes, vom kleinsten fingerlutschenden Bübchen oder Mädchen bis zur Ahne und dem Großvater, der nur noch zitternd die „Beterln“, den Rosenkranz, zu halten vermag, alles nimmt im Festwagen Platz; nur die jungen Burschen geben ihm zu Pferde das Geleit. So geht es unter lautem Hallo in raschem Trabe vom Hause weg, der Leonhardskapelle zu, oft auf stundenweitem Weg. In einer langen Straße zu Tölz nimmt der Zug seine Aufstellung. Dutzende von Wagen, unter deren Besatzung bei großer Kälte die Enzianflasche zur Erwärmung des Magens kreist, reihen sich mit ihrer Geleitsmannschaft aneinander, voran der Vorreiter mit einem, was das Alter anlangt, hochinteressanten Cylinderhute, dann ein sinnig geschmückter Wagen mit der Geistlichkeit, dem Meßner und den Ministranten. Es folgt ein mit Tannenreisig geputzter Leiterwagen mit den Musikanten, die aus Leibeskräften lustige Märsche blasen, während die Theilnehmer des Zuges laute Gebete in den frischen Morgen schreien. Der Einfluß der Schnitzerkunst zeigt sich unverkennbar in den mitgeführten Dekorationen. Da wird das Modell der Leonhardskapelle bei Tölz mitgeführt, aus Holz und Pappe künstlerisch hergestellt, oft thront auf einem farbenprächtigen Wagen eine vorzügliche Leonha[rd]sstatue, vor der ein Jubelpaar in der Tracht des vorigen [Jah]rhunderts seine Andacht verrichtet, unbekümmert um den auf d en Dorfstraßen herrschenden Lärm. In gutem Glauben treibt man aus manchen Orten auch das Vieh herbei, damit es durch die Betheiligung an der Lienhardsfahrt gefeit werde gegen alle Krankheiten. So reihen sich oft an fünfzig Wagen aneinander, und langsam geht die Fahrt den Berg hinan zur Kapelle.

In vollem Ornat steht die Priesterschaft an der Eingangspforte der St. Leonhard geweihten, mit langer Eisenkette umspannten Kapelle, der greise Pfarrer segnet jeden einzelnen Lienhardswagen, und wenn alle fertig sind, dann beginnt die feierliche Messe. Das kleine Kirchlein kann die Menge nicht fassen, die Gläubigen stehen draußen im Kreise entblößten Hauptes ungeachtet des scharfen Nordostes, der den Berg umtost. – Helle Kinderstimmen, brausende Orgeltöne erschallen. Jetzt ist die Messe aus, rasch werden der hungrigen Jugend heiße Würstel und Schwarzbrot in den Wagen geworfen, welche Atzung die Bauern den fliegenden Kaufbuden und Schänken entnommen haben, dann ertönt eine Fanfare, die Musikkapelle setzt mit einem markerschütternden Marschlied ein, der Zug setzt sich in Bewegung, es beginnt in raschem Tempo die Rundfahrt um die Leonhardskapelle. Hier zeigt sich, wer ein Meisterfahrer ist; wer es nicht ist, der wirft wohl an der äußerst scharfen Krümmung den Wagen mit seinem Menscheninhalt die steile Böschung in den Föhrenstand hinab, eine Gefahr, die dem Städter den Angstschweiß auf die Stirn treibt.

Aber diese Banern kennen Pferd und Fahrkunst, haarscharf nehmen sie die Kurve, und unter lustigem Peitschellgeknall geht es die Straße wieder hinab. Wohl beten die Wageninsassen auch jetzt noch, aber an Stelle der Andacht ist eigentlich doch die Neugier getreten, zu sehen, ob „der Vater“ auch heuer seine Fahrkunst beweisen oder umwerfen wird, was eine unauslöschliche Schande für die Familie und den Bauernhof bedeuten würde. Es flattern die Bänder und Fähnlein, die Laubgewinde schwanken unter der Erschütterung des ungefederten Wagens, die muthigen Rosse wiehern in die scharfe Morgenluft, als ahnten sie, welche Rolle sie am Leonhardstage spielen. Gruß und Witzwort fliegt hin und her, die Bauernburschen sprengen auf ungesatteltem Pferde vorbei, und wenn einer recht keck ist, dann stößt er dem Gaul wohl die schwergenagelten Bergschuhe kraftvoll in die Weichen, daß das erschrockene Thier kerzengerade in die Luft steigt. Den Pferderücken darf der Bursche freilich in solchem Augenblick nicht verlassen, er wäre blamiert sein Leben lang.

Immer flotter wird die Fahrt, bis an der Kirche zu Mühlfeld bei Tölz der dortige Geistliche nochmals Mann und Roß segnet. Dann wird gewendet, die „Brettelhupfer“, welche auf einem am Ende jedes Wagens befeftigten Brette stehen, beginnen mit ungeheuer langen Lederriemen an kurzen Stielen ein nervenerschütterndes Peitschengeknall, das regelrecht im Takt durchgeführt wird, bis der Zug vor den Gasthäusern angelangt ist; hier springt der „Brettelhupfer“ ab und reicht mit ländlicher Galanterie den mit einem Satz über Bord springenden Mädchen die hilfreiche Hand. Nun folgt des Festes zweiter, weltlicher Theil bei Mahl und Tanz. –

Einer der schönsten Lienhardswagen war der des reichen Huberbauern von Wackersberg. Für den Lienhardstag war dem alten Bauern nichts zu kostspielig, er wollte seinen Reichthum zeigen auf jede Weise. „Wir haben ’s ja,“ pflegte der Bauer in seinem Uebermuth zu sagen. Mit seinen vier Gäulen überholte er alle anderen Fuhrwerke, zurückbleiben oder gar umwerfen hätte den Huberbauern um den Verstand gebracht. Aber so reich er war, der rechte Segen war nicht in seinem Hause zu finden, denn es fehlte der Friede drin. Mit seiner schmucken Tochter, der blondzopfigen Liesel, lebte der Huberer in stetem Streit, weil das Mädel zum Mann nicht den Leitnerbauernsohn von Arzbach nehmen wollte, der an Reichthum dem Huberer nicht nachstand.

So brav die Liesel immer war, in dieser Angelegenheit zeigte sie sich gerade so bockbeinig wie der alte Bauer, und von Nachgeben war bei ihr keine Rede. Wohl donnerte der Alte viel vom Zwingen, vom gewaltsamen Hinschleifen zum Altar, aber die Liesel lachte ihm ins Gesicht und meinte: „Oho! Eine Huberische zwingt man nicht!“

Vom diesmaligen Lienhardstag erhoffte der Huberbauer eine Einwirkung auf seine eigenwillige Tochter. Er hatte den Leitnerbauern wissen lassen, wo sie nach der Fahrt in Tölz einkehren würden„ und bei guter Tafel und fröhlichem Tanz werde wohl sein Mädel mit sich reden lassen. Schon während der Fahrt nach Tölz war der Bauer fuchsteufelswild geworden, denn mehrere Male hörte er hinter seinem Wagen ein Pfeifen, gleichsam als gebe einer ein Zeichen, daß er vorfahren wolle. Der Huberer aber einen vorfahren lassen, das gab’s nicht! Und wie rasend hatte er auf die Gäule eingehauen, daß sie dampfend und keuchend an der Lienhardskapelle ankamen. Während der Fahrt in Tölz hatte er den Leitnersohn nicht zu Gesicht bekommen, was den Bauern abermals grimmig ärgerte. Dann hätte er um ein Haar die Kurve oben bei der Kapelle zu weit genommen, ein Hinterrad hing schon in der Luft. Das war sofort von den übrigen Bauern bemerkt worden und an Stichelrufen fehlte es nicht. Springgiftig war der Bauer endlich beim Wirthshaus angekommen, so recht in der Stimmung, just das Gegentheil von dem zu thun, was andere Leute meinten. Das fing gleich beim Bestellen des Getränkes an, weil einer der lustigen Burschen das Schnaderhüpfl sang:

„Gehst du ins Wirthshaus ’nein,
Trink an Tirolerwein,
Aber koan süaßen –
Sonst mußt es büaßen.“

Natürlich regalierte der Hitzkopf jetzt erst recht seine Eh’halten (Hausgesinde) mit süßem Weine, daß die Gesellschaft, des schweren Getränkes ungewohnt, rasch rothe Köpfe bekam. Getreu der alten Sitte bei der Leonhardsfahrt mußte aufgetragen werden, daß sich die Tische bogen. Wer wissen will, was ein Bauernmagen leistet und verträgt, der finde sich am Lienhardstag im Gebirge ein. Da ißt jeder drei- und viermal, denn an diesem Tage zahlt der Bauer die gesammte Zeche, und alles, was zum Hof gehört, ist sein Gast. Das kostet viele harte Kronenthaler, und wohl aus diesem Grunde ist die Betheiligung an der Lienhardsfahrt in den letzten Jahren etwas zurückgegangen.

Der Huberer ühertrumpfte heute alle anderen Bauern durch die Massenbestellungen von Speise und Trank, er lud jeden ein, der ihm zu Gesicht stand, und wie der schwere Wein seine Wirkung that, durften sich auch Burschen an den Tisch setzen, die der Bauer sonst nicht in seiner Gesellschaft geduldet hätte. Er brauchte Leute zum Hänseln, und um die „noblichte Zeche“ gaben sich genug arme Schlucker zum Stichblatt der bäuerlichen Spottsucht her.

Die Liesel hatte die qualmerfüllte Stube verlassen, als das Gespräch der erhitzten Bauern anfing, ein Heidenlärm zu werden. Das Mädel schämte sich, daß mit dem Reichthum so geprotzt wurde. Wie sie das Gärtchen oben am Bräukeller aufsuchen wollte, von wo man eibeb gar hübschen Ausblick auf die grüne Isar und ins Gebirge hatte, da trat auch der Schmiedflori ins behäbige Bräuhaus, und sein Falkenblick sah sofort die Gestalt des Prachtmädels. Im Nu war der Bursche die lange Stiege hinaufgesprungen, er wußte selbst nicht, wie es so schnell ging. Die Huberer-Liesel kannte er von einem Besuch auf dem Hofe des Bauern her, wohin er als „halber Thierarz!“ (Kurschmied) geholt worden war. Er sah das schmucke Mädel gern, aber weitere Gedanken hatte er sich nie gemacht, die hätt’ ihm auch der Bauer nicht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 702. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_702.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2023)