Seite:Die Gartenlaube (1892) 721.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

„Krippe“ im Volksschulgebäude auf der Uhlenhorst.

„Die Zahl kann natürlich nur ungefähr angegeben werden,“ meinte dieser, „schon deshalb, weil sich noch nicht von allen eingelieferten Kindern mit Gewißheit sagen läßt, ob sie wirklich Waisen sind. Täglich stellen sich Väter oder Mütter ein, die, aus dem Krankenhans eben als genesen entlassen, nun mit Angst und Zittern ihre Kleinen suchen. Manche freilich suchen vergebens, sie finden nur die Gräber der Kinder auf dem Friedhof in Ohlsdorf draußen. Also erst im Laufe der Zeit läßt sich von der armen kleinen Gesellschaft feststellen, wer Ganzwaise und wer Halbwaise ist.“

„Aber eine annähernde Schätzung ist doch wohl möglich?“

„Nun ja – 623 Kinder sind uns von der Polizeibehörde abgenommen und einstweilen bei Privatleuten in Pflege gegeben, 250 sind im Waisenhaus und in der Schule in Uhlenhorst untergebracht worden; rechnet man dazu die Kinder im Barmbecker Asyl und die Neueingebrachten in der Uebergangsstation am Brookthorquai, so möchte alles in allem die Zahl der Cholera-Waisen auf rund tausend zu veranschlagen sein, ohne jede Uebertreibung. Und wohlgemerkt, das ist die jetzige Zahl; wer will wissen, wieviel noch hinzukommen!“

Verwaist.

Tausend Cholera-Waisen – und diese Zahl wächst in der That noch von Tag zu Tag! Wahrlich, es hat einen furchtbaren Klang, das neue Wort, vor allem für die Hamburger selbst! Seit manchen Wochen mußten die Eltern dort jeden Morgen seiner eingedenk werden, wenn sie beim Frühstück einen Blick in die Zeitung warfen und die Familienanzeigen durchflogen ... die nahmen dreimal, viermal soviel Raum ein wie zu gewöhnlichen Zeiten, obgleich die Verlobungen und die Hochzeiten so äußerst wenig Platz beanspruchten. Da theilten Verwandte im Namen von drei unmündigen Kindern mit, daß deren Eltern an einem und demselben Tage weggerafft worden seien, da kündigte eine Tochter an, daß ihrer verwitweten Mutter jetzt auch Bruder und Schwester ins Grab gefolgt seien und sie nun ganz allein stehe. Und seltsam – fast nie wurde die schreckliche Seuche als Todesursache angegeben, man scheute das Wort, nur von „kurzem schweren Leiden“ war die Rede; aber Zusätze wie „Bestattung von der Leichenhalle am Holstenthor aus“ oder „die Beerdigung hat bereits stattgefunden“ sprachen deutlich genug. Und gerade in diesen unscheinbaren Zusätzen lag oft noch eine besondere Verschärfung des Schmerzes der Hinterbliebenen. Im sorgfältigen Erweisen der letzten Liebespflicht, in der liebevollen Zurüstung

der Bestattung liegt immerhin eine Art von Trost, von Beruhigung

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 721. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_721.jpg&oldid=- (Version vom 25.2.2019)