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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Platz hinter dem Ladentisch einnahm, kniff die Rothart sie in den Arm.

„Sie sind mir eine Heimliche!“

Und die Meier zischelte: „Nun darf man doch wohl endlich seinen Glückwunsch anbringen?“

Die übrigen schwiegen auch nicht, die anzüglichen Bemerkungen jagten sich – es war ein moralisches Spießruthenlaufen für die arme Grete.

„Haben Sie nicht immer gethan, als könnten Sie den Röver so wenig sehen wie eine Spinne? Unter vier Augen gewinnt er wohl?“

„Sie stehen freilich früher auf als unsereins!“

„Wie macht er sich denn, der Herr Kassierer, wenn er Süßholz raspelt?“

Und eine antwortete, auf den Strauß an Gretes Brust deutend: „Ist das eine Frage? Veilchenhaft macht er sich.“

Endlich ging der Verhöhnten die Geduld aus. „Lassen Sie mich in Ruhe wegen dieser Sache, ein für allemal! Ich mische mich auch nicht in Ihre Angelegenheiten. Sie haben mich gegen Herrn Röver aufgehetzt, und er verdient das nicht. In welcher Weise ich mein Unrecht gut zu machen suche, ist meine Sorge!“

Das war Oel ins Feuer. Sie vertheidigte den Kassierer, also eine wirkliche Neigung! Und unter dem Anschein übertriebenster Rücksichtnahme gestalteten sich die Hänseleien immer spitziger und giftiger. Es war ein kleines Martyrium, das sie an diesem Morgen erduldete für einen Mann, den sie nicht liebte – nein, nicht für den Mann, für das Unrecht, das sie ihm früher angethan hatte. Unrecht fordert Sühne.

Es ging gegen Mittag; ein Wagen fuhr vor. Herr Franz kam von der Reise zurück. Er begrüßte eilfertig das Personal, ließ sich rasch vom Kassierer Bericht erstatten dann begab er sich die Treppe hinauf in sein Privatzimmer, wo die Post, seiner harrend, aufgestapelt lag, obenauf eine Depesche, die vor einer halben Stnnde gekommen war: „Herrn Franz, Franz und Co. Eigenhändig.“

Einige Minuten verstrichen – plötzlich gab es ein Durcheinanderlaufen droben, ein Rennen, Rufen, der Laufbursche ward hinaufbeordert und eilig fortgeschickt. Er kehrte ebenso eilig zurück in Begleitung eines Herrn mit zugeknöpftem Rocke und noch zugeknöpfterem Gesicht, der ohne ein Wort den Laden durchschritt und sich in das Zimmer des Chefs begab. Da – niemand konnte sagen, wer zuerst das Wort geflüstert hatte, aber mit einem Male lief es von Mund zu Mund: „Die Geheimpolizei!“ In wenigen Augenblicken wußten alle alles. Eine Werthsendung war unterschlagen worden, statt der Geldscheine hatte der Empfänger unter unverletztem Siegel ein altes Zeitungsblatt zugestellt erhalten, ein Stück einer Berliner Börsenzeitung, auf dessen Rückseite die Adresse stand: „Herrn A. Röver. Pfahlstraße Nr. 8 p.“.

Grete erblaßte bis in die Lippen. Das konnte nicht sein, er, der alles Unrecht haßte! Und doch, hatte er nicht selbst bekannt, ehrgeizig zu sein, hoch hinaus zu wollen, hatte er nicht soeben erst bedauert, kein Kapital zu besitzen? Sie blickte empört zu ihm hinüber, er saß ruhig vor seiner Kasse und schrieb; das Ziel aller Blicke, der Gegenstand aller Gespräche, schien er die Aufregung gar nicht zu merken, deren Ursache er war.

„Aber hören Sie denn nicht?“ rief sie außer sich und trat zu ihm. „Sind Sie taub und stumm? Oder warum reden Sie nicht? Weshalb vertheidigen Sie sich nicht?“

„Vertheidigen, Fräulein Meermann? Gegen welche Beschuldigung soll ich mich denn vertheidigen?“

„Wissen Sie’s wirklich nicht? O, eine Kleinigkeit – in einem Werthbrief ist statt der Tausendmarkscheine, die er enthalten sollte, ein Stück altes Zeitungspapier gefunden worden, ein Stück Papier, das zufälligerweise Ihren Namen trägt, Herr Röver!“

Röver zuckte zusammen. „Die Werthsendung nach Berlin,“ murmelte er. Er sah dabei so rathlos aus, so völlig niedergeschmettert, daß Grete nicht mehr an seiner Schuld zweifelte, und eine blinde Wuth packte sie gegen sich selbst, daß sie Partei ergriffen hatte für einen Dieb.

Röver fing an, mit großen Schritten umherzuwandern. „Es muß sich aufklären, es muß! Gott im Himmel, ist denn so etwas möglich? Gestern abend habe ich selbst die Scheine in den Umschlag gesteckt, selbst das Paket gesiegelt – Ihr Herr Bruder kann mir’s bezeugen.“

„Mengen Sie meines Brnders ehrlichen Namen nicht in Ihre unsauberen Händel, Herr Röver!“

„Fräulein Meermann!“

Das Ladenpersonal drängte neugierig herzu, einen Kreis um die Streitenden bildend. Grete suchte es nicht zu hindern, sie sollten es hören, alle, daß sie nichts gemein hatte mit einem Verbrecher.

„Wahrlich,“ rief sie bebend, „schön bin ich belohnt dafür, daß ich mich bethören ließ, für Sie einzutreten Spott und Hohn auf mich zu nehmen um Ihretwillen! Geschieht mir schon recht! Warum achtete ich nicht auf die Stimme meines Herzens, die mich von Anfang an vor Ihnen warnte, auf die Stimme aller rechtlichen Leute . . .“

„Fräulein Meermann,“ preßte Röver hervor, „mäßigen Sie sich! Es giebt Worte, die nicht zurückzunehmen sind, Dinge, die ich sogar Ihnen nicht vergeben kann. Sie haben schon einmal ein Wort zu mir gesprochen, das Sie gereute – hüten Sie sich!“

„Daß Ihr Betragen mich lächerlich mache, hab’ ich gesagt,“ gab sie höhnisch zu. „Gewiß, ich hätte das nicht sagen sollen. Nicht lächerlich, nein, verächtlich macht die Zuneigung eines Betrügers!“

Er hatte die Hände abwehrend ausgestreckt, als könne er dadurch das Wort auf ihren Lippen zurückhalten; keuchend rang er nach Athem. In diesem Augenblick trat der Geheimpolizist geräuschlos in den Laden und beschied den Kassierer Röver in das Zimmer seines Chefs. Röver stand wie angewurzelt; in seinem gelbgewordenen Gesicht funkelten die schwarzen Augen jetzt mit wirklich bösartigem Ausdruck. Seine Finger krümmten sich nach Innen. „Ich komme,“ sagte er langsam, mit einer Stimme, die fremd und gebrochen klang. Dann wandte er sich zu Grete: „Fräulein Meermann! Sie haben heut’ einen Menschen, der Ihnen nie etwas zu Leide gethan hat, tödlich beleidigt, ohne Ursache, in stolzem Uebermuth, in einer Stunde obendrein, da er gerade von Ihnen ein tröstliches Wort hätte erwarten dürfen. So wahr ich an eine Vergeltung auf dieser Erde glaube, Sie werden diese That noch bitter bereuen, werden Jahre Ihres Lebens dafür hingeben wollen, die Worte ungesprochen zu machen, die Sie mir eben gesagt haben, und werden es nicht können, so wenig, wie ich je deren Klang aus meinem Gedächtniß zu tilgen vermag.“

Damit wandte er sich schwerfällig um, die Thür schlug hinter ihm zu.

Kunden kamen, Grete war eine gesuchte Verkäuferin, man rief sie von allen Seiten, sie mußte Red’ und Antwort stehen. „Blaues Ripsband? Ja wohl, gnädige Frau! In welcher Breite?“ – Er hatte nicht mehr nach ihr zurückgeschaut, jetzt mußte er schon droben stehen vor seinem Geschäftsherrn. Ob er sich verantworten konnte? Aber wie sollte das möglich sein? . . . „Die Schattierung dürfte zu hell ausfallen! Vielleicht diese Sorte? Eine wunderschöne Farbe! Sie wollen soviel nicht ausgeben, gnädige Frau? O, wir haben dies Band in allen Preisen!“ . . . Was für eine Stirn er zeigte! Wie er sie heruntergekanzelt hatte; er – sie! Ihm stand es wahrlich an, mit der Vergeltung des Himmels zu drohen – ihm, einem Betrüger! Wenn er nun aber doch keiner wäre, wenn sie ihm unrecht gethan hätte! Wie ein Betrüger sah er nicht aus, besonders bei seinen letzten Worten nicht – natürlich nicht, war er doch ein Erzheuchler! . . . „Sie befehlen, gnädige Frau? Dieses hier? Wieviel darf ich abschneiden?“

Im Hintergrund des Ladens wurde auf das Zahlbrett geklopft. „Kasse!“ rief eine Verkäuferin durch den Raum. „Kasse!“ – Das ging sie an, sie war ja die Stellvertreterin des Kassierers.

Und sie schlüpfte hinauf und trat an das braune Pult, vor dem er eben noch gesessen hatte –

„Aber entschuldigen Sie, Fräulein, die Rechnung stimmt wirklich nicht!“

„Bitte tausendmal um Verzeihung! Sechzig Pfennige bekommen Sie heraus, nicht wahr? Nun wird’s recht sein.“ –

Im Grunde, was ging die ganze Geschichte sie an? Hatte sie nicht von Anfang an einen Widerwillen gegen den Menschen gehegt? Wer war ihr fremder als er? Und dennoch empfand sie sein Vergehen als ein ihr persönlich angethanes Unrecht: er hatte ihr Vertrauen erschlichen, er hatte nicht nur seinen Chef, sondern auch sie betrogen!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 755. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_755.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2023)