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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

angstvollen schuldbewußten, aber heiß und begehrlich schlagenden Herzen in dem fremden kalten gemessenen Menschen, den er vor der Welt spielte, wie in einer steinernen Hülle, welche enger und enger wurde von Tag zu Tag und ihm Athem und Leben zu nehmen drohte. Und eine furchtbare Bangigkeit packte sein bedrängtes Selbst, es mußte sich Luft schaffen, sich den Beweis liefern, daß es noch lebe, und weil ihm dafür neben dem neuerstandenen Julius Meermann am Tage kein Raum blieb, so wählte es die Nacht, sich auszurasen. Ein gefährliches Rasen! Habermann zwar war über der See, aber Julius fand mit Erstaunen, daß die Habermanns nur so aus den Pflastersteinen aufschossen und daß seine wilde Laune ihn wieder genau in dieselbe gefährliche Lage brachte, aus der jene That der Verzweiflung ihn einst hatte retten müssen. Sorgfältiger noch als vor zwei Jahren verhüllte er dieses nächtliche Treiben. Grete wurde nicht mehr in Anspruch genommen, um die knarrende Thür seiner Kammer einzuölen. Der Nothausgang, den er früher nur ein paar Mal zum Scherz benutzt hatte, war sein gewöhnlicher Weg geworden, durch den er zur Nachtzeit aus und ein ging. Das Licht auf seinem Schreibtisch brannte derweil hell, und wenn Mutter oder Schwester, aus dem Schlaf aufwachend, ihre Augen rieben, sahen sie das erleuchtete Viereck seines Fensters über den Hof schimmern und waren voll Bewunderung für die Arbeitskraft und Arbeitslust ihres Lieblings und höchstes in Sorge, daß der unermüdlich Thätige sich zu viel zumuthe. Frau Meermann machte dem Sohne auch ab und zu gelinde Vorstellungen über sein langes Aufsitzen, besonders wenn die Schatten unter seinen Augen einmal wieder ungewöhnlich tief wurden, aber Julius lächelte nur ablehnend dazu.

„Man muß seine Schuldigkeit thun, Mutter, so gut man kann. Haben der Vater und Du mir nicht das Beispiel gegeben? Mein Prinzipal rechnet auf mich, ich darf sein Vertrauen nicht täuschen.“

Und Frau Meermann trug den Kopf noch einmal so hoch nach solch stolz bescheidener Antwort; im geheimen betete sie den Sohn an. Ihr Mann hatte ja auch seine Schuldigkeit gethan, gewiß – aber prunklos, nüchtern, platt, als etwas, über das zu reden sich nicht lohnt, weil es sich von selbst versteht; ja er hatte sogar einen unüberwindlichen Widerwillen bekundet gegen alle schön klingenden Redensarten. Es war aber doch etwas Hübsches und Einnehmendes um weise Worte, das sah Frau Meermann jetzt mit steigender Bewunderung an ihrem Sohne. –

Von der Stadt hallte zum Schützenplatz herüber der Schlag der Mitternachtsstunde. Julius, der sich in dem „spießbürgerlichen“ Zelt grausam langweilte und seine Nacht gern lustiger beschlossen hätte, zog mahnend die Uhr hervor. „Es wird hohe Zeit, Mutter,“ sprach er sanft, doch mit der Miene eines Paschas, der gar nicht daran denkt, daß jemand ihm widersprechen könne.

Die Mutter widersprach auch nicht, obgleich ihre Tochter den ganzen Abend und eben jetzt wieder auffallend von einem jungen Kaufmann ausgezeichnet worden war, welcher Inhaber eines flotten Geschäfts und deshalb bei den Müttern heirathsfähiger Töchter wohl gelitten war. Allein Grete in ihrer raschen Weise fuhr dazwischen.

„Heimgehen? Jetzt schon? Ich denk’ nicht dran!“

Auf diesen „unschönen“ Ausbruch antwortete Julius nicht; er redete weiter zur Mutter, ebenso leise, ebenso gemessen wie zuvor und ohne jedes Zeichen von Ungeduld. „Ich halte es doch für besser, aufzubrechen, Mutter. Bis jetzt war das Fest durchaus hübsch. Später möchte ich hier keine Verantwortlichkeit mehr meiner Mutter und Schwester gegenüber übernehmen.“

„Hast recht, Julius! Alle Freude muß Maß und Ziel haben – also mach’ Dich fertig, Grete, hörst Du?“

Grete rüstete sich nur langsam und verdrossen zum Heimgehen; sie hätte gar zu gern noch eine Weile getanzt, wenn auch nur, um diesem frechen Menschen, dem Röver, der schon seit mehr als einer Stunde wieder am Eingang des Zeltes stand und sie mit seinem unheimlichen Blicke anstarrte, zeigen zu können, daß seine Gegenwart nicht imstande sei, ihr das Vergnügen zu verderben.

Als sie dann zu Hause ihren Feststaat abgelegt hatte und ihr Lager in der Kammer ihrer Mutter aufsuchte, zog Frau Meermann sachte die Gardine von den Scheiben zurück und deutete hinüber nach dem hell erleuchteten Fenster des Sohnes.

„Siehst Du, Grete, er arbeitet wieder, der brave Junge! Sein Pflichtgefühl hat ihn heimgetrieben. Wie selbstsüchtig würde es von uns gewesen sein, hätten wir noch mehr von seiner kostbaren Zeit für unser Vergnügen beanspruchen wollen.“

Und Grete schämte sich ehrlich.

Julius Meermann aber arbeitete wirklich während dieser Nacht, allerdings nicht in seiner Kammer, sondern auf dem Festplatz der Schützengilde; auch nicht an einer kaufmännischen Unternehmung, sondern an seinem Unglück und an der Schande der Seinigen. Es ward eine verhängnißvolle Nacht für ihn, er verlor im Spiele eine bedeutende Summe, die innerhalb einiger Tage beglichen werden mußte – und er beglich sie auf dieselbe Weise, wie er in letzter Zeit auch für manche andere dringende Fälle Rath geschafft hatte. Die Sache machte sich wirklich ganz einfach – ihn selbst nahm’s wunder, wie viel leichter als das erste Mal ihm jetzt der Schritt über das Gesetz hinaus wurde. – –

Etwa eine Woche nach dem Schützenfest kam Julius schon vor der Mittagszeit nach Hause.

„Grete, thu’ mir die Liebe und packe meinen Koffer! Ich habe noch einige Gänge vor.“ Er war sehr blaß, seine Augen brannten wie im Fieber.

„Willst Du denn verreisen?“ fragte Frau Meermann.

„Ja, in Geschäftssachen. Mein Prinzipal schickt mich. Wie gesagt, ich habe nicht einen Augenblick zu verlieren.“

Und dann zögerte er doch auf der Schwelle und wandte seine heißen Blicke zurück auf das Stübchen mit seiner behaglichen Wohlhabenheit, auf die Kuckucksuhr, die einst des Knaben Freude gewesen war, auf das dunkelbraune Spind, in dem die Honigkuchenvorräthe der Mutter verwahrt wurden, auf das schwarze Ledersofa, auf dem der Vater abends sein Pfeifchen geraucht und seinen Jungen auf den Knien geschaukelt hatte. Zuletzt, am längsten, hafteten seine Augen auf dem Antlitz der Matrone, die in dem Urvätersessel Platz genommen hatte, zwischen dessen weitgeschweiften Backenlehnen der alte Meermann einst zu einer besseren Welt hinübergeschummert war, und ein eigenthümliches Schlucken zerschnitt dem Scheidenden die Rede. „Ich – ich habe noch nicht gefragt, Mutter – wie geht’s Dir heute?“

Seit einiger Zeit litt Frau Meermann an Gicht, und der Arzt fürchtete, daß sie völlig lahm werden könne, aber sie ertrug diese Aussicht mit Spartanermuth. „Meine Kinder werden meine Krücke sein,“ sagte sie denen, die sie bemitleideten.

„Wie immer, wie immer,“ erwiderte sie auch jetzt wohlgemuth. „Mach Dir keine Sorge um meinetwillen, mein Junge! Ich bin alt, habe mein Theil in der Welt geschafft und genossen und darf mich getrost in diesen Winkel da setzen, wenn meine Füße einmal nicht mehr mit wollen. Aber Du bist jung und sollst noch viel beschicken in der Welt. Und mir scheint, Du siehst angegriffener aus als seit langer Zeit. Du mußt Dich besser schonen lernen!“

Bewegt ergriff Julius die Hand seiner Mutter. „Mir geht’s gut, ganz gut,“ sagte er gepreßt. „Ich bin stark, und wenn ich wiederkomme –“ Plötzlich fiel er der Greisin um den Hals und küßte sie, wie er es seit seiner Kindheit nicht mehr gethan hatte. „Werde gesund, Mutter, ganz gesund und kräftig – damit Du keiner Stütze mehr bedarfst!“

Frau Meermann wischte verwundert einen heißen Tropfen von ihrer Wange, der aus des Sohnes Augen darauf gefallen war, und sagte zu Grete, als Julius hastig hinausgeeilt war: „Er hat sich ernstlich übernommen – der arme Schelm ist ganz nervös. Ich werde wahrhaftig, wenn er wiederkommt, mit dem Arzte reden müssen.“

Wenn er wiederkommt! –

Grete ging in des Bruders Kammer, nahm den Koffer vom Brett und füllte ihn sorgsam und flink. Erst das Leinenzeug, dann die Stiefel, die Hausschuhe, den feinen Sonntagsrock, den Frack für alle Fälle, die Handschuhe, das Kursbuch oben auf; nun noch Plaid und Schirm. War das alles? – Er sah nicht gut aus, der Bruder, die Mutter hatte recht. Und wie überreizt er war! Aufgeregt bis zu Thränen über eine Trennung von Tagen! Es mußte etwas für seine Gesundheit geschehen. Als Knabe hatte er einmal in ähnlicher Weise gekränkelt, damals waren ihm vom Arzte Chinintropfen zur Stärkung verordnet worden mit gutem Erfolg. Seitdem bewahrte er beständig ein

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 787. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_787.jpg&oldid=- (Version vom 28.4.2023)