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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Fläschchen mit diesen Tropfen in seinem Schreibtisch auf, sie nach Bedarf einzunehmen, manchmal täglich, dann wieder in monatelangen Zwischenräumen. Diese Arznei, wenn er noch davon besaß, wollte sie ihm in den Koffer legen. Sein Schreibtisch war verschlossen; aber sie wußte, der Schlüssel hing im Kleiderschrank; richtig, da war er! Sie öffnete eine Schublade nach der anderen, das Fläschchen fand sich nicht. Doch vielleicht stand es in dem geheimen Fache, das sich hinter einer der Laden befand. Grete kannte es wohl, es war in ihrer Kindheit immer ihre Hauptfreude gewesen, wenn sie es, auf dem Schoße des Vaters sitzend, hatte öffnen dürfen. Mit ihren kleinen Händchen hatte sie dann nach der Feder getastet und aufgejauchzt, wenn auf einen leichten Druck die Klappe emporschnellte. Sie kannte die Stelle der Feder noch genau – ein Druck, und die Klappe sprang auf. Sie griff in das Fach. Kein Fläschchen! Nur ein zusammengelegtes Papier lag drin. Neugierig zog sie es hervor ... am Ende gar ein Liebesbrief, und der Duckmäuser von Bruder that immer, als sei sein Herz unverwundbar! Nun, diesmal wollte sie ihm schon auf seine Schliche kommen! Aber das war ja gar kein Brief, sondern ein Blatt mit Zahlen, eine Berechnung – das war ... Sie stieß einen gellen Schrei aus und fiel vor dem Schreibtisch auf die Knie, das Blatt in der Hand. Ob sie es kannte, dieses Blatt mit Rövers Handschrift, obgleich sie es nie mit Augen gesehen hatte! Mit eifriger Spannung war sie seinerzeit dem Prozeß gegen den Kassierer gefolgt, sie und ihre Freundinnen. Einige von ihnen pflegten den Gerichtssitzungen beizuwohnen. Er hatte es oft und genau beschrieben in seiner Vertheidigung, der Unglückselige! Das war die Form des Papiers gewesen, das hatte darauf gestanden, so lautete die Berechnung, so die Summe – o, sie kannte es! Und nun lag es im Geheimfach ihres eigenen Bruders!

Ein wilder Ruf schreckte sie aus ihrer Betäubung. Julius stand auf der Schwelle, aschfahl, mit weit aufgerissenen Augen.

„Was – was geht hier vor?“

„Schließ’ die Thür!“ herrschte Grete ihn an und richtete sich langsam vom Boden auf. Dann, vor ihn hintretend, hielt sie ihm das Blatt vor die Augen.

„Kennst Du dies?“

„Dies?“ Er taumelte zurück. „Wie kommt dies in Deine Hand? Wie kannst Du Dich unterstehen –“

Und wüthend haschte er nach ihrem Arm, um ihr das Blatt zu entreißen, aber sie stieß ihn zurück.

„Dieb!“

Es war das Wort, das sein Gewissen ihm wiederholt hatte Tag und Nacht, das nun zum ersten Male eine Menschenstimme ihm ins Gesicht schleuderte, und vor seinem Klang ließ er die Maske fallen, die er bis zur Stunde zur Schau getragen hatte. Er sank auf den Stuhl vor dem Schreibtisch, schlug beide Hände vor sein Gesicht und weinte.

Die Minierspinne.

Ihre Hand, die das verhängnißvolle Papier hielt, sank schlaff herab, ihre ganze Gestalt bebte.

„Julius,“ begann sie tonlos, „sag’ nur ein Wort, daß es nicht wahr ist, daß Du trotzdem unschuldig bist. Julius,“ schrie sie auf, „sag’ mir, daß Du das nicht gethan hast!“

Er aber senkte den Kopf noch tiefer. „Ich hab’s gethan, Grete. Ich bin ein schwacher, schlechter Mensch! Die Versuchung war zu mächtig – wenn Du wüßtest – wenn ich Dir sagen könnte –“

Mit schneidender Verachtung unterbrach sie ihn. „Hast’s gethan und konntest dulden, daß der andere, daß Dein Freund zu Grunde gerichtet wurde durch Deine Schuld?! Hast es mit angesehen und hast dazu geschwiegen?!“

„Ich hab’s ja nicht gewollt! Bei allem was mir heilig ist, ich hab’ das nicht gewollt! Es hat mich nachher genug gequält, daß ich in der Eile die Zeitung mit seinem Namen unterschoben habe. Ich hatte gemeint, sie sollten die Post verantwortlich machen, und es würde nie herauskommen. Für so schlecht wirst Du mich doch nicht halten, daß ich diesen Ausgang beabsichtigt hätte! Und glaub’ mir, wenn er elend geworden ist – ich bin zehnmal elender! So elend, daß es schier eine Wohlthat für mich ist, endlich einem Menschen – Dir, Grete, sagen zu können, was ich leide, wie grenzenlos ich mich verachte. Und wenn ich mich nicht entschließen konnte, den Zeugen da zu vernichten, so ist’s, weil mir davor graute, an diese Vergangenheit zu rühren.“

Grete war hart wie Stein seinem Jammer gegenüber. „Weißt Du, daß ich Anton Röver grausam beschimpft habe in seinem Unglück? Weißte Du, daß er mir geflucht hat? Und Du, Du warst der Verbrecher! O, schön, schön!“ Und in sinnloser Verzweiflung packte sie den Arm des Schluchzenden. „Gieb mir das Wort zurück, das ich zu jenem gesprochen, den Hohn, mit dem ich ihn todlich verwundet! Aber – was denk’ ich an mich, was liegt an mir, an uns! Wer giebt dem Aermsten die Jahre wieder, die ihn durch Schimpf und Schande verbittern mußten, wer seine verlorene Zukunft, auch wenn er von jetzt an gerechtfertigt dasteht?!“

Julius hob horchend den Kopf.

„Gerechtfertigt? Du denkst doch nicht – – Grete, willst Du Deinen Bruder verrathen?“

„Hast Du geglaubt, daß ich mich zu Deiner Mitschuldigen machen werde?“

Er wagte, ihr in die funkelnden Augen zu sehen. „Um unserer Mutter willen –“ stammelte er.

Da rief sie außer sich: „Elender, und er – hat er nicht eine Mutter so gut wie wir?“

Julius sprang empor; angesichts dieser Gefahr, an die er bisher noch gar nicht gedacht hatte, fand er seine Fassung wieder, und eine leise Unentschlossenheit, die er bei der Nennung der Mutter trotz der heftigen Entgegnung auf dem Gesicht der Schwester zu lesen glaubte, gab ihm einen Theil seiner Sicherheit zurück.

„Thu’, was Du glaubst verantworten zu können,“ sagte er entschlossen. Wenn Du Dich verpflichtet fühlst, der Mutter das Herz zu brechen – ich kann Dich nicht daran hindern. Aber mich wirst Du nicht wiedersehen –“

„Was soll diese Andeutung, diese ganze überstürzte Reise?“

Grete erhielt nur einen unsicheren Blick des Bruders zur Antwort. Und plötzlich begriff sie – o, sie begriff jetzt wunderbar gut. „Julius! Du hast abermals gestohlen!?“

Ich kann’s nicht leugnen,“ sagte er trotzig, „ein paar hundert Mark aus des Chefs Kasse, zu der ich den Schlüssel führe. Ich hoffte, sie gestern oder heute ersetzen zu können, aber das Pech im Spiel verfolgt mich ohne Unterlaß. Und er kommt heut’ abend schon heim, zwei Tage früher, als wir angenommen hatten. Er muß die Sache entdecken. So wird’s wohl das Beste sein, ich geh’ übers Meer, und dazu hab’ ich mir noch einiges – Reisegeld genommen. Es ist die letzte Schande, die ich Euch mache,“ fügte er mit einem nervösen Zucken seiner Mundwinkel hinzu.

Sie ergriff mit wilder Hast seinen Arm. Du bleibst! Tausend Mark habe ich auf der Sparkasse. Ich erhebe sie. Du deckst davon die Summe, die Du unterschlagen hast. Dein letztes Verbrechen ist ungeschehen zu machen – um unserer Mutter willen –“

„Grete, Du wolltest ...?“ In dem Augenblick, da er im Begriff stand, mit seiner behaglichen geachteten Existenz zu brechen,

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 788. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_788.jpg&oldid=- (Version vom 15.5.2023)