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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

in Schande, Gefahr und Elend hinaus zu gehen, in diesem Augenblick bot sich ihm Aussicht auf Rettung! Er sollte in den bequemen Verhältnissen bleiben dürfen, ein angesehener, beneideter Mensch nach wie vor!

„Grete, wie gut Du bist!“

„Ich begehre keinen Dank von Dir,“ erwiderte sie mit eisigem Nachdruck, dem Kuß ausweichend, den er in überströmender Dankbarkeit auf ihre Wange drücken wollte; unwillkürlich strich sie über die Stelle ihres Kleides, welche seine ausgestreckte Hand berührt hatte, als müsse sie da etwas wegwischen.

Er ließ sich dadurch nicht irre machen. „Ich will mich bessern, Grete! Gewiß und wahrhaftig, Dein Opfer wird nicht umsonst gebracht sein. Ich will ein braver rechtschaffener Mensch werden – ich schwöre Dir, das will ich!“

„Kannst Du das?“ fragte das Mädchen schneidend und deutete auf das Blatt in ihrer Hand. „Kannst Du das – nach diesem?!“

„Gieb mir den Zettel, Grete!“

„Nein!“

Er erbleichte. Ein grausamer Zug von Härte lag um ihren zusammengepreßten Mund! „Grete – Du wirst Deine Gutthat an mir nicht selbst zu nichte machen wollen?“

Sie schwieg.

„Grete!“

„Ich weiß nicht, ich verspreche nichts!“

„Thu’ das kleinere menschlichere Unrecht – rette Mutter und Bruder! Was geht Röver Dich an? Ein Fremder, ein Dir verhaßter Mensch!“

„Um so unerträglicher, in seiner Schuld zu stehn, gedemüthigt vor ihm bis in den Staub! Es bringt mich um den Verstand!“ Sie brach in krampfhaftes Schluchzen aus.

Er ließ nicht ab, zu betteln. Einschmeichelnd, überredend klang seine Stimme. „Keine Pflicht der Welt gebietet Dir, Zeugniß abzulegen wider Deinen Bruder. Nicht einmal das Gericht würde Dich zu einer Aussage gegen mich zwingen. Denk’ an unsere Kindheit, Grete, an unsere brave rechtschaffene Mutter! Du brauchst ja nicht zu lügen und zu heucheln, nur zu schweigen. Grete, nicht wahr, Du wirst schweigen?“

„Ich will’s versuchen – sage der Mutter irgend einen Grund, warum Deine Reise unterbleibt!“ Die Worte rangen sich mühsam los von ihren Lippen und fielen wie eine Centnerlast auf ihr Gewissen. Schwankend ging sie zur Thür, ungeduldig die Zärtlichkeiten abwehrend, mit denen der Bruder sie zu überschütten suchte. –

Es war eine qualvolle Zeit, die jetzt für Grete begann. Sie hatte den verhängnißvollen Zettel in ihrer Kommode verborgen. So oft sie nun die Lade aufzog, war es ihr, als schauten daraus zwei dunkle Augen, die sie nur zu gut kannte, vorwurfsvoll drohend zu ihr auf. Sie versteckte das Papier in den fernsten Winkel ihres Kleiderschrankes, zuletzt verschloß sie es in ein Kästchen – es half nichts; ein unheimliches Leben steckte in dem Blatt; auch durch die Wände des Schrankes schien es zu schimmern, und die schwarzen vorwurfsvollen Augen verfolgten sie bis in den Traum. Wachend und schlafend schleppte sie das Bewußtsein ihrer unfreiwilligen Schuld mit sich herum.

Diese Schuld hatte schon des Bruders Wesen verwandelt, jetzt verwandelte sie auch das der Schwester.

Der Mutter fiel’s auf, wie still und gedrückt ihre fröhliche Grete einherging; die Freundinnen wunderten sich, wie allmählich der stolz zurückgeworfene Kopf herabsank auf die Brust, und dem braven Julius, der seit seiner unverhofften Errettung sich in rosigster Stimmung befand, lief’s eiskalt über den Rücken, so oft er inmitten seiner scheinheiligen Reden dem Blicke der Schwester begegnete. Er fand es bald noch ungemüthlicher daheim als früher und nach einer Enthaltsamkeit von vierzehn Tagen fing er von neuem an, bei seinen alten Freunden Zerstreuung und Betäubung zu suchen.

Grete aber hatte den gesunden Schlaf der Jugend verloren. So oft sie nachts müde auf ihr Lager sank, schauten durch die Dunkelheit Anton Rövers Augen sie an, wie sie sie angeschaut hatten an jenem Tag, als man ihn verhaftete. Und ein Dämon wiederholte ihr jedes Wort, das sie damals zu ihm gesprochen hatte, immerfort, immerzu. „Mengen Sie meines Bruders ehrlichen Namen nicht in Ihre unsauberen Häbdel!“ – „Nicht lächerlich, nein verächtlich macht die Zuneigung eines Betrügers!“ Da war kein Wort vergessen, keines gemildert, und immer von vorne fing die Stimme an, in entsetzlicher Einförmigkeit. Es konnte so nicht dauern – sie mußte Befreiung suchen von dem Bann, in den des Bruders That sie geschlagen hatte. Aber was sollte sie thun? Die Ehre, die der Bruder Röver genommen hatte, konnte, durfte sie dem Beraubten nicht zurückgeben! Aber vielleicht ließ sich gut machen, was sie persönlich gegen ihn gefehlt hatte? Sie war dazu bereit, ernstlich und ohne Bedingung! Ihren Besitz, ihre Arbeit, ihre Person – sie würde klaglos alles hingegeben haben zur Tilgung dieser Schuld. Das erste war – sie mußte ihm ihre Grausamkeit abbitten, ihn anflehen um Verzeihung! Vielleicht daß dann diese furchtbare Spannung von ihr wich.

Wenn sie nun abends aus dem Geschäft heimkehrte, legte sie es darauf an, Röver zu begegnen; sie machte häufig einen Umweg durch die Straße, in der er wohnte, und nach einigen fruchtlosen Vers[uc]hen gelang ihre Absicht – aber er sah sie nicht oder wollte sie nicht sehen. Am nächsten Tage wiederholte sie den Versuch um dieselbe Zeit. Diesmal ging sie dicht an ihm vorüber, sie streifte ihn fast, allein sein Blick blieb starr geradeaus gerichtet. Nun blieb kein Zweifel mehr – er wollte sie nicht bemerken. Sie hätte sich’s denken können – er behandelte sie, wie sie es verdiente. Aber Frieden – wie sollte sie Frieden finden!

Und von plötzlicher Eingebung geleitet, kehrte sie um und schlich dem Heimkehrenden nach auf den Hof, auf den die Fenster seiner Wohnung gingen. Vor einem dieser Fenster stand sie mit klopfendem Herzen still, scheu wie eine Verbrecherin, und suchte durch die Vorhänge in das erleuchtete Zimmer hineinzuspähen. Das eine Rouleau, das schadhaft gewesen und bei der Ausbesserung ein wenig zu kurz gerathen sein mochte, schloß nicht völlig, so konnte sie einen Blick hineinwerfen in die Stube.

Eben trat er ein. Der Hund flog mit Freudengebell an ihm empor, und die alte Frau – wie rasch sie vom Stuhle sich erhob, ihrem Sohn entgegen! Freude leuchtete aus jedem Zuge des kleinen runzligen Gesichtes! Er aber lächelte, als er sich herabbeugte, ihr welkes Antlitz zu küssen, und alles Finstere, Drohende in seinen Mienen löste sich in diesem Lächeln. O, er war ein guter Sohn – diese Züge heuchelten nicht, während daheim . . . Daß sie diesen Vergleich nicht unterdrücken konnte, so weh er ihrem Herzen that!

Warum hatte sie diesen Mann gehaßt, der zehnmal mehr werth war als ihr Brnder! Ueber ihn war das Unglück in seiner schlimmsten Gestalt, waren unverdient Armuth und Schande zugleich hereingebrochen, und sie hatten ihn fest gefunden, unerschütterlich, entschlossen thätig, rücksichtsvoll gegen die Mutter im Leid wie im Glück. Eine heiße Fluth stieg ihr in die Augen und ließ das Zimmer und die Gegenstände darin vor ihrem Blicke verschwimmen. Leute kamen über den Hof. Sie entfloh und kehrte heim, nur noch bedrängter in ihrem Innern. Ihr war die Macht verliehen, diesen beiden Menschen das volle Glück zurückzugeben, den Druck, der auf ihnen lastete, fortzunehmen – und sie durfte diese Macht nicht brauchen, durfte diesen Weg nicht gehen, den einzigen, das fühlte sie, der zugleich ihre eigene Verschuldung gemildert hätte.

Eine verzehrende Sehnsucht ergriff sie, etwas, nur etwas zur Freude und zum Glücke der Heimgesuchten ins Werk setzen zu können. Sie grübelte darüber Tag und Nacht – vergebens! Es gab nur das eine: die Ehre der Ihrigen preisgeben, um sie jenen zurückzubringen. Und das konnte sie nicht! Aber wenn Julius jetzt in seiner glatten schmeichlerischen Weise der Mutter nach dem Munde redete, und diese, stolz wie eine Herrscherin in ihrem Sessel thronend, bewundernd zu dem vergötterten Sohne hinüberschaute und von der Ehrbarkeit und Tüchtigkeit sprach, die sich von den Eltern auf die Kinder vererbe, von den Vergehen der Söhne, in denen sich die Schuld der Väter räche – dann wurde Grete von einer erstickenden Angst gepackt vor der ungeheueren Lüge, zu der ihr und der Ihrigen Leben geworden war. Und eine Besorgung, einen Abendbesuch bei einer Freundin vorschützend, stürzte sie hinaus in den Regen, in das Dunkel, Straße um Straße durchjagend, bis sie sich vor den Fenstern der Röverschen

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 790. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_790.jpg&oldid=- (Version vom 21.11.2023)