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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

zu der Genesenden hereindringen könne. Die lag still da und schaute sinnend auf ihre abgemagerten Hände. Noch hatte sie den Namen des verlorenen Sohnes nicht wieder über ihre Lippen gebracht, aber mit der fortschreitenden Genesung begann ein Schimmer von Frieden sich über ihre gealterten Züge zu breiten. Die Tochter hatte die Wohnstube sauber aufgeräumt, das Veilchensträußchen auf dem Sofatisch zurecht gerückt und war im Begriff, zur Bereitung des bescheidenen Mahls hinauszugehen, als draußen die Vorthür ging, die sie nicht verschlossen hatte, und gleich darauf an die Zimmerthür gepocht wurde.

„Herein!“

„Guten Morgen, Fräulein Grete!“

„Herr Röver –“

Er war’s und doch ein anderer als früher, denn seine Lippen lächelten zuversichtlich, und ein Strahl tiefen Glückes leuchtete aus seinen Augen. Er eilte auf die Erröthende zu und faßte ihre beiden Hände.

„Sie haben einen neuen Menschen aus mir gemacht, Grete, und einen glücklichen. Allein der Erfolg macht übermüthig. Noch ist mein Glück nicht vollkommen, ich komme, zu holen, was daran fehlt.“

Grete blieb stumm. Sie wagte nicht, die Augen aufzuschlagen, und sie, die sonst so entschlossen war, zitterte vor scheuer Befangenheit.


Pflügender Araber.
Originalzeichnung von M. Rabes.


„Vor Jahren,“ sprach er und sah den Veilchenstrauß auf dem Tische an, „träumte ich von einer geachteten Stellung in weiter Ferne, und wenn ich die gefunden hätte, dann wollte ich zurückkehren und vor ein geliebtes Mädchen treten, wollte sie bitten, mein Glück zu theilen, es erst vollkommen zu machen. Der erste Theil dieser Wünsche ist erfüllt. Ich habe den Polizeidienst aufgegeben und durch Verwendung meines früheren Chefs in einer großen Seestadt eine Anstellung gefunden, die meine kühnsten Erwartungen übertrifft. Und jetzt muß ich wohl oder übel versuchen, auch den zweiten Theil meines Programms zu verwirklichen. Grete – nur Dich habe ich lieb gehabt, solange ich denken kann! Willst Du mich begleiten? Willst Du mein Weib sein?“

Sie war sehr blaß geworden. „Ich verdiene es nicht –“ stammelte sie.

„Grete, hast Du mich lieb?“

„Nach dem Hohn und Schimpf, den ich Ihnen angethan habe – jetzt, jetzt, da wir arm sind, mit Schande bedeckt, da all unsere Freunde sich von uns wenden!“

„Hast Du mich lieb, Grete?“

Da warf sie sich erglühend in seine Arme und vergrub ihr Gesicht an seiner Brust. „O Du bester, gütigster der Menschen – nimm mich hin! Ich habe keinen Willen, keinen Stolz mehr vor Dir! Dir folge ich, wohin Du mich führst!“

*  *  *

Es geht Anton Röver gut in der neuen Heimath. Die Jahre, die er im Dienst der Polizei zubringen mußte, haben ihn gelehrt, mit Menschen umzugehen, und dadurch seinen Kenntnissen erst den rechten lebendigen Werth gegeben. Er arbeitet sich stetig empor zur Freude und zum Stolz seines alten Mütterchens, das nun endlich gute Tage genießt. Frau Meermann, sehr still und mild geworden, lebt bei ihm. Sie spricht wenig mehr von Rechtschaffenheit und Pflichttreue und niemals nennt sie den Namen ihres Sohnes. So oft jedoch ein Schiff aus entlegenen Welttheilen im Hafen gemeldet wird, wankt sie, auf ihren Stock gestützt, zur Landungsbrücke, um den ankommenden Fahrgästen ins Gesicht zu schauen. Sie sagt es nicht, aber tief im Herzen hegt sie unwandelbar die Hoffnung, daß eines Tages der verlorene Sohn, reuig und gebessert, in ihre Arme zurückkehren werde.

Grete ist eine glückliche Frau, eine glückliche Mutter. Wenn jemand das hübsche Aussehen ihres Erstgeborenen rühmt, streicht sie liebkosend über sein dichtes Haar und sagt mit besonderem Stolze: „Ja, ja – und er hat die Augen seines Vaters.“

Sie hat sie lieben gelernt, diese Augen.


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 796. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_796.jpg&oldid=- (Version vom 25.4.2023)