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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

den Gärten vor und hinter den Häusern. Von Jahr zu Jahr wird der Spitzentrieb kümmerlicher, die Nadeln werden dürr und fallen ab, kahler und kahler strecken sich die Aeste empor, und schließlich kommt der Gärtner und haut den verdorrten Baum ab, und der hübsche Vorgarten, den sonst ein halbes Dutzend stattlicher Christbäume zierte, hat seinen schönen Winterschmuck eingebüßt, das weiße Leichentuch des Schnees deckt alles in gleichförmiger Oede.

Woher kommt dieses Absterben der Nadelbäume in den Stadtgärten, während doch die Laubbäume weiter gedeihen und verhältnißmäßig sogar prächtige Baumkronen entwickeln?

Gerade die Eigenschaft welche uns den Christbaum so lieb macht, nämlich daß er „zur Sommer- wie zur Winterszeit grün“ ist, bringt ihm Verderben, denn sein bitterster Todfeind ist der Schnee. Allerdings nicht der Schnee an und für sich, wie er draußen im endlosen Walde auf seinen Zweigen ruht, sondern der Schnee in der Stadt, der durch die Verbrennungsgase zahlloser Stadtessen verunreinigte Schnee.

Weitaus der größte Theil der Stadthaushaltungen heizt jetzt mit Steinkohlen. Zahllose Centner dieser schwarzen Diamanten gehen in Gas- und Rauchform täglich in die Luft der Städte über, und während im Sommer die Windströmungen diese Verbrennungsstoffe rasch hinwegführen und durch Vermischen mit überwältigenden Mengen atmosphärischer Luft so verdünnen, daß sie keinem organischen Wesen schädlich werden, ist es im Winter der Schnee, welcher in seiner unschuldigen Weiße begierig eines der schädlichsten Verbrennungsgase ansaugt und in sich aufspeichert. Um dies zu erklären, müssen wir uns ein wenig in das Labyrinth der chemischen Formeln wagen.

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Flächenschnitt eines Stückchens von der Epidermis einer Föhrennadel.
a. Epidermiszellen. b. Spaltöffnungen.

Alle Steinkohlen enthalten mehr oder weniger Schwefel, ihm verdanken die einzelnen Sorten das raschere oder kürzere Verbrennen. Sobald nun Schwefel verbrennt, geht er mit dem Sauerstoff der Luft eine direkte Verbindung ein, ein säuerlichschmeckendes, erstickendes Gas, aus einem Theil Schwefel (S) und zwei Theilen Sauerstoff (O) bestehend, die schweflige Säure (Schwefeldioxyd) (SO2). Tritt nun zu dieser schwefligen Säure (SO2) noch ein Molekül Wasser (H2O), so entsteht mit Hilfe des Sauerstoffs der Luft die Schwefelsäure (SO2 + H2O + O = H2SO4), eines der schärfsten Gifte, welches selbst schon in geringen Mengen alles organische Leben zerstört.

Der Schnee nun enthält eine eigenthümliche Verbindung, aus zwei Theilen Wasserstoff und zwei Theilen Sauerstoff bestehend, welche, auf künstlichem Wege hergestellt, in der Technik neuerer Zeit vielfach Verwendung findet. Diese Verbindung – Wasserstoffsuperoxyd genannt – findet sich in geringen Mengen in der Atmosphäre, im Regen, Thau und Schnee. Ihre chemische Zusammensetzung unterscheidet sich insofern von der des gewöhnlichen Wassers, daß sie ein Atom Sauerstoff (O) mehr als dieses enthält, wir schreiben daher seine chemische Formel H2O2. Das zweite Atom Sauerstoff im Wasserstoffsuperoxyd ist jedoch nur lose gebunden, weshalb diese Verbindung durch Wärme leicht in ihre Bestandtheile, nämlich Wasser und Sauerstoff, zerfällt. Diesem Verhalten nun verdankt das Wasserstoffsuperoxyd auch seine geschätzte Eigenschaft, leicht mit anderen Körpern neue Verbindungen einzugehen, und daher ist es erklärlich, daß der Schnee, in welchem vermöge der niedrigen Temperatur ein Zerfallen des Wasserstoffsuperoxydes verhindert wird, begierig das Verlangen zeigt, die beim Verbrennen des in den Steinkohlen enthaltenen Schwefels entstehende gasartige schweflige Säure anzusaugen und als Schwefelsäure aufzuspeichern (SO2 + H2O2 = H2SO4).

Ein Chemiker am hygieinischen Institut der Universität München, welches bekanntlich von Pettenkofer geleitet wird, hat es unternommen, diese Eigenschaft des Schnees, Schwefelsäure aufzuspeichern, Schritt für Schritt nachzuweisen[1]. Er entnahm aus dem Hofraum des genannten Instituts im Winter 1886 vom 6. bis 22. Februar eine bestimmte Menge Schnee und wies nach, daß der Gehalt an Schwefelsäure täglich zunahm. So fand er am 6. Februar in einem Kilogramm Schnee 6,96 Milligramm Schwefelsäure, am 10. Februar schon 32,80 Milligramm, am 12. Februar 40,60 Milligramm, am 14. Februar 48,40 Milligramm, am 16. Februar 62,20 Milligramm, am 22. Februar 91,50 Milligramm. Leider unterbrach hier starker Schneefall die interessante Untersuchungen. Während derselben Zeit entfernt von der Stadt auf freiem Felde aufgenommene Schneeproben waren ganz oder fast frei von Schwefelsäure.

Eine Föhrennadel.
Natürliche Größe.

Es mag hier noch bemerkt sein, daß das hygieinische Institut in München in einem noch wenig bebauten Stadttheile an der Theresienwiese liegt, der namentlich auch im Winter häufigen Süd- und Westwinden ausgesetzt ist und besonders im Jahre 1886 noch fast ringsum frei war.


Wenn man nun die immergrüne Eigenschaft der Nadelhölzer in Betracht zieht, so ist es leicht erklärlich, warum gerade diese rauhen Kinder des Waldes die Stadtluft nicht vertragen. Die bei den Fichten und Kiefern ringsum mit Spaltöffnungen versehenen Nadeln sind dem mit Schwefelsäure durchtränkten Schnee eben schutzlos preisgegeben. Die Laubbäume sind in der milderen Jahreszeit, in welcher die Natur schneefrei ist, vor den in den Regen übergehenden Verbrennungsgasen durch die glatte, mit gewissen Wachsarten getränkte Oberhaut ihrer Blätter geschütz, während sich bei ihnen fast ausnahmslos die Spaltöffnungen nur auf der Blattunterseite befinden. Luft und Wind trocknen außerdem etwa auf den Blättern sitzenbleibende Wassertropfen rasch ab und verhindern eine Aufspeicherung der schwefligen Säure, so daß die Laubbäume ganz gut gedeihen, solange nicht übermäßiger Ruß oder Staub die Blätter dicht belegt und die kleinen Spaltöffnungen an der Unterseite verstopft. Aber selbst für diesen Fall hat die gütige Mutter Natur häufig Vorsorge getroffen, indem die Blattunterseite namentlich bei ganz jungen Blättern der neuen Triebe oft mit kleinen, dem bloßen Auge nicht sichtbaren Haaren oder haarähnlichen Gebilden besetzt ist; sie dienen einestheils zum Schutze der Spaltöffnungen, anderntheils erfüllen sie oft drüsenartige Aufgaben, indem sie Körper, welche durch den Stoffwechsel im Blatte entstanden und zur weiteren Ernährung der Pflanze nicht mehr nöthig sind, aufnehmen und ausscheiden.

Kündigt sich nun der Winter an, so sucht der Laubbaum sich seiner für eine kalte Temperatur nicht eingerichteten Blätter zu entledigen; er bildet, nachdem alle noch werthvollen Stoffe aus dem Blatte in den Stamm zurückgetreten sind, an der Ansatzstelle des Blattstiels am Zweige eine Korkschicht, welche, undurchlässig für den Saftstrom, den nun zur Winterruhe bereiten Baum hermetisch abschließt. Das vom Gesammtorganismus abgetrennte Blatt wehrt sich noch eine Zeitlang gegen sein Schicksal, es wird roth und gelb und dürr, fällt schließlich bei einem kräftigen Windstoß ab und giebt die Salze, welche es dem Boden entzogen hat und welche nun durch Fäulniß frei werden, der Mutter Erde wieder zurück.

  1. Siehe Dr. Sendtner, „Bayer. Industrie- und Gewerbeblatt“ 1887.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 799. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_799.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2023)