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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

schüchtern zwei Mädchenarme mir entgegenstreckten. Dann stand ich in der Stube, in der warmen, hellen Stube, vor einem kleinen Weihnachtsbaum, und die welkende Strandrose reichte mir schweigend ein Glas dampfenden Glühweins und die Mutter machte einen Teller zurecht mit Nüssen, Honigkuchen und Baumbehang. Das leerte sie mir dann alles in die Tasche des Kommißmantels. Dann sollte ich wieder gehen. Aber der Wein war höllisch heiß, ich mußte mit den Händen abwechseln und nahm nur kleine Schlucke. So dehnte sich der Besuch doch auf ein kleines halbes Stündchen aus, während dessen ich mich völlig der kindlichen Freude hingab; ich hatte also doch meinen Weihnachtsabend, und einen mit einem Kuß, den mir die alte Frau mit versteckten Thränen der Rührung gab - es war mir, als küßte mich meine Mutter. Das Mädchen reichte mir die Hand. „Es ist gleich neun,“ sagte sie, sie wußte, daß das die Stunde der Ablösung war. Eine Minute später war ich wieder zu meiner Pflicht zurückgekehrt, in den Wachtmantel geschlüpft und hatte das klirrende Gewehr geschultert. Niemand ahnte, daß ich mein theures Vaterland eine halbe Stunde lang unbewacht gelassen hatte, „aber – sagte ich mir – an dem Abend fängt ja doch keiner Krieg an.“ – Und ich habe mich glücklicherweise nicht getäuscht. Dieser Weihnachtsabend ist ein leeres Blatt in der Weltgeschichte.

*  *  *

Ja, die Bande des Stammtisches – sie sind unbeschreiblich fest, und mancher kann sich nicht mehr davon befreien. Herr Pfeifer – das ist so ein eherner Stammtischgenosse, das Wirthshaus ist seine Welt, die gewohnte Tafelrunde ersetzt ihm alle anderen Arten des geselligen Verkehrs, die Häuslichkeit, das Familienglück. Er ist ein alter Junggeselle geblieben. „Ich habe den Anschluß versäumt!“ erklärt er auf Befragen, aber in Wirklichkeit hat er ihn gar nie ernsthaft gesucht . . . Er hätte ja das Wirthshausleben aufgeben oder beschränken müssen! Davor hatte er die meiste Angst. „Heute kommt wieder gar niemand!“ sagte er, zum so und so vielten Mal nach der Uhr sehend, denn er saß nur mit zwei Genossen an dem großen runden Tisch.

„Ja, einen Tag vor Weihnachten ...“ meinte einer der Stammtischfreunde erklärend.

„Werde froh sein, wenn der Rummel vorüber ist, kostet nur Geld und bringt einen aus seiner Ordnung,“ bemerkte Herr Pfeifer, und nach ein paar langen Zügen aus der Cigarrettspitze frug er, die Arme auf den blankgescheuerten Tisch legend, sein Gegenüber: „Aber Sie kommen doch morgen, Doktor?“

„Nee, bin in Familie,“ antwortete dieser.

„Und Sie?“ wendete sich Herr Pfeifer etwas unsicher an den andern.

„Bin auch eingeladen, – was machen denn Sie?“

„Was soll ich machen, es ist doch ein Tag wie ein anderer. Der Christabend ist für die Kinder, ich weiß nicht, was wir Erwachsene, die wir keine Kinder haben, dabei thun sollen – hm?“

„Aber es ist doch ein schönes Fest ... wissen Sie, das, was ein Dichter den jährlich wiederkehrenden Schalttag des Lebens nennt,“ meinte der gemüthvolle Doktor.

„Ja, ja,“ lächelte Herr Pfeifer, „es ist ja auch ganz hübsch, die Bescherung und so weiter, bis jeder entdeckt, daß ihm dies zu groß und das zu klein ist, und daß er sich etwas ganz anderes gewünscht hat, dann kommt die heimliche Verdrießlichkeit durchgesickert, alles ist müde, abgespannt ... ah, ich bitte Sie, ich habe es ja bei meinem Schwager ’mal mitgemacht – nie wieder! Ich will nichts hören davon. Meine Wirthschafterin bekommt ihre zwei Zwanzigmarkstücke – ich habe sie ihr schon gestern gegeben, da soll sie sich dafür kaufen, was sie will, und damit basta!“

Der Wirth, ein kleiner wohlgenährter Mann mit einem glänzenden glatten Gesicht, trat heran und stellte sich – die Hände auf die Lehne stützend und darauf trommelnd – hinter zwei leeren Stühlen auf.

„Morgen habe ich wohl nicht die Ehre?“

„Ach natürlich, doch nicht etwa des Festes wegen – hm, der auch!“ antwortete Herr Pfeifer verstimmt.

Der Wirth empfand das Bedürfniß, es gleich wieder gut zu machen. „Darf ich Ihnen einen hochfeinen Karpfen zurückstellen, Herr Pfeifer?“

„Was, Karpfen?“ krittelte der standhafte Stammtischgast, „denke nicht dran. Eß’ das ganze Jahr keinen Fisch, soll ich morgen einen Karpfen essen, der mir nicht schmeckt, nur weil Weihnachtsabend ist? Nein, nur keine solchen Sachen . . . ich kann das nicht ausstehen. Ein Tag wie der andere! Wer wird denn da Geschichten machen . . . Sie, übrigens, ich habe das Ihrem neuen Kellner schon gesagt, wenn er mir wieder ein Glas Bier bringt, so schlecht eingeschenkt, ich schicke es zurück . . .“

„Natürlich, Herr Pfeifer, haben vollständig recht!“ betheuerte der heuchlerische Biedermann von Wirth. Dann drehte sich das Gespräch zwischen den vieren um das Thema Bierpflege, das Geheimniß der Münchener Brauer, die Vorzüge des Pilsener Biers und um die muthmaßliche Rentabilität eines neueröffneten Bierpalasts an der Straßenecke. Zur gewöhnlichen Stunde löste sich die Gesellschaft, die heute nur ein Terzett gebildet hatte, auf.

„Nun also – kommt wirklich keiner morgen?“ frug Herr Pfeifer heimlich seufzend.

Die beiden wiederholten, während sie die Winterröcke anzogen ihre Verneinung. Dann machten sie sich, von dem Oberkellner, dem Wirth und dem Piccolo bekomplimentiert, auf den Weg.

Herr Pfeifer war in der That am nächsten Abend der einzige Gast am Stammtisch, ja überhaupt der einzige in der ganzen Kneipe. Nicht einmal der Wirth ließ sich blicken. Zum ersten Mal war der Pendelschlag der großen runden Wanduhr zwischen den verräucherten Kaiserbüsten zu hören. Der neue Kellner – ihn hatte es getroffen, den Abend im Dienst zuzubringen – stand in der Höhe des Fensters und blickte brütend auf die Häuser gegenüber, um doch auch ’was von einem brennenden Christbaum zu sehen.

Der einzige Gast störte ihn in diesen elegischen Betrachtungen durch die Bestellung eines zweiten Glases Bier, wobei er dem

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 819. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_819.jpg&oldid=- (Version vom 16.5.2023)