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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Der Wunderglaube der Weihnacht.

Von Alexander Tille.0 Mit einer Zeichnung von H. Engl.

Wenn sich am Heiligen Abend die Dunkelheit herniedersenkt, alt und jung sich in die Häuser zurückzieht, um den Weihnachtsabend zu feiern, und bald allenthalben die Fenster vom hellen Lichterscheine wiederglänzen, dann bricht nach altem Glauben draußen unter freiem Himmel eine Nacht an, die anders ist als andere Nächte. Wohl scheinen auch in ihr die Sterne freundlich nieder auf die Erde, die im weißen Festkleide daliegt, wohl streicht auch in ihr der Wind dahin über Feld und Wald, wohl such auch in ihr Mensch und Thier Ruhe nach der Arbeit des Tages, und die Pflanze schläft still unter der bergenden Schneedecke den Winterschlaf.

Aber es geht noch ein anderer Hauch durch die Natur, und die Bäume des Waldes knarren und stöhnen anders, als sie sonst zu thun pflegen unter dem Drucke des Sturmwindes, der sie von ihrer Schneelast befreit; denn noch etwas andres zieht neben dem Sturm durch die Lüfte. Das sind die alten germanischen Götter, die eine neue Lehre aus ihrer alten Himmelsburg Asgard vertrieben hat und die nun als Unholde in brausendem Jägerzug, als „wilde Jagd“ „wüthendes Heer“ oder „Wodans Gejaid“ durch die Lande brausen. Unter wildem Gejohle, in das sich das Brausen des Sturmwinds, das Bellen der Hunde, das Schnauben und Wiehern der Rosse und die Wehrufe der Weiber mischen, reitet an der Spitze des Zuges der wilde Jäger auf schwarzem Rosse, in der Hand den Jagdspeer schwingend. Ihm folgt das Jagdgesinde nebst der Meute; Fru Gode oder Frau Holle darf auch nicht fehlen. So geht’s dahin auf dem Rennste1g Thüringens, über Berge und Höhen, über Wald, Thal, Fluß und See, über Fahrstraßen und über die Hütten der Dörfer, die in festlichem Glanze schimmern; Bäume werden entwurzelt, Grenzsteine ausgerissen, Zäune niedergebrochen und selbst die Schornsteine gefährdet.

Ein kluger Mann kann die Bahnen der tollen Jagd leicht vorauswissen. Er braucht nur alle Kreuzwege aufzusuchen, denn das ist Gesetz in jener Welt, der das wilde Gejaid angehört, daß jeder Kreuzweg besucht werden muß. Aber man hüte sich, zu lange zu verweilen! Denn wer sich von Wodans Jagd überraschen läßt, für den giebt es nur noch eine Rettung: sich platt auf den Boden zu werfen und mit geschlossenen Augen, das Gesicht nach der Erde gewendet, den unheimlichen Zug vorüberbrausen zu lassen. Wer das versäumt, wird mitgenommen und muß mitjagen bis zum letzten Tage, oder er erfährt irgend einen Schaden an seinem Leibe.

Bei Moosburg in Oberbayern stand dereinst ein Mann am Kreuzweg, als die wilde Jagd vorüberzog. Da fuhr ihm ein Messer in seine Achsel, und weder er noch ein anderer vermochte dasselbe berauszuziehen. Ein Jahr lang ging er damit umher. Da rieth ihm die Dorfesalte, sich in der Weihnacht wieder auf den Kreuzweg zu stellen. Der das Messer hineingestoßen habe, werde es schon wieder herausziehen. Er ging dahin und harrte lautlos des Kommenden. Da vernahm er in der Ferne ein Brausen, als ob das Meer über Bayern hereinbreche. Gleich darauf hörte er einen sprechen. „Gestern habe ich mein Messer in diesen Holzblock gesteckt; nun nehm’ ich’s wieder mit!" Dann stürmte es über seinem Leibe dahin, daß ihm die Sinne vergingen. Als er wieder zu sich kam, so endet die Sage, da war er des Messers ledig.

Nur in seltenen Fällen erweist sich die wilde Jagd als freigebig. Einst lauerte ein Knecht auf dem Heuboden auf den nächtlichen Zug und schaute zur Dachluke hinaus. Als die Unholde anlangten, rief er kecken Muthes: „Gebt mir auch was!“ Da flog ihm aus der Luft ein gewaltiger Pferdeschenkel zu.

So verhängnißvoll die wilde Jagd dem einzelnen werden kann, der ihr vorwitzig oder wohl gar aus reiner Neugier entgegentritt, so segensreich wirkt ihr Umzug draußen in der Natur. Ihre Bahnen kann man im Frühjahr leicht erkennen: wo das Gras und das Korn am reichlichsten sprießt, wo die Fruchtbäume voller blühen und in den Gärten der Salat am kräftigsten aufschießt, da ist der wilde Jäger drüber gefahren. Oft geht mitten durch ein Grundstück ein Streifen, wo die Wintersaat üppigere Halme ansetzt oder die Kartoffeln doppelt so groß gerathen wie rings umher. Das sind die Stellen, über welche die Rosse der wilden Jagd dahingebraust sind.

Es giebt aber auch stille Weihnachtsnächte, in denen sich kaum ein Lüftchen rührt und keine Flocke Schnee fällt. Das kommt daher, weil das wilde Heer die Gegend verlassen hat und dieses Jahr auf andern Bahnen streift. Dann stehen die Aussichten fur den Landmann schlecht und er macht sich bittere Sorgen um den Ausfall der kommenden Ernte. Wenn aber zur Weihnachtszeit ein starker Wind geht, dann schließt man auf ein fruchtbares Jahr. Wenn’s in der Christnacht schneit, so geräth der Hafer; das Grüne zu Weihnachten aber bedeutet Osterschnee.

„Wie sich das Wetter von Christtag bis heiligen Dreikönig hält,
So ist es das ganze Jahr bestellt.“

Jeder Tag entspricht dabei einem Monat und ist vorbedeuteud für ihn. Ist die Christnacht vor Mitternacht trüb und finster, so gedeiht das vor dem Christtag geborene Vieh nicht wohl. Ist die Christnacht nach Mitternacht klar, so gedeiht das nach dem Christtag geborene Vieh gut und umgekehrt.

In der Mitternachtsstunde erreicht die Heiligkeil der Zeit ihren Höhepunkt, und wenn es vom Thurm zwölf Uhr schlägt, dann ist es aus mit der Herrschaft und den Gesetzen der Zeit, dann ist es zeitlos wie die Ewigkeit. Tausende von Jahren vergehen im Nu und ein Menschenleben erscheint kaum einen Augenblick lang. In der Pflanzenwelt sind in der Mitternachtsstunde der Christnacht die Naturgesetze aufgehoben, und mitten in Schnee und Eis blüht um diese Stunde ein Frühling, mit dessen Duft und Pracht sich kein irdischer Lenz zu messen vermag.

Den Lesern der „Gartenlaube“ ist es wohl bekannt,[1] daß seit dem fünfzehnten Jahrhundert auf deutschem Boden die Sage geht von Apfelbäumen, die in einer Stunde Knospen und Blüthen hervorbringen und Aepfel zeitigen, aus deren Gestalt man die Zukunft zu erkennen vermag. Ueber das ganze Abendland verbreitet ist die Sage von der Rose von Jericho, welche sich in der Christnacht öffnet und dem Lande, in dem sie sich befindet, seine künftigen Geschicke vorhersagt.

In einem elsässischen Dorfe, unweit Mariastein, steht ein „Rosenknopf“ (Rosenknospe), welcher nie verblüht. Das Jahr über ist er geschlossen, in der Christnacht aber entfaltet er sich und wirft weithin duftend einen lichten Schein. Er stammt von dem „Rosenhurste“ ab, an welchem die Jungfrau Maria auf der Flucht nach Aegypten die Windeln ihres göttlichen Kindes getrocknet hat. Je länger die Rose blüht, desto fruchtbarer wird das Jahr.

Vor dem Oberthore des in Lothringen gelegenen Dorfes Diemeringen liegt ein großer Hopfengarten. Wer sich mäuschenstill und unbeschrien zwischen elf und zwölf Uhr in der Christnacht an den Ort begiebt, der sieht, wie fingerlange und saftige Hopfensprossen aus dem Boden herausbrechen, die Leute sagen dann: „Der Hopp (Hopfen) kommt.“ Sowie es vom Kirchthurm Zwölfe geschlagen hat, ziehen sich die Sprossen wieder in die Erde zurück, und auch das schärfste Auge vermag in dem gefrorenen Boden nicht die Stelle zu erkennen, wo sie gestanden hatten.

Auch außerhalb Deutschlands, doch noch auf germanischem Boden, findet sich dieser Glaube. Noch unter Karl I. wurde in England an

  1. Vergl. „Gartenlaube“ 1889, Halbheft 27, „Noch einmal auf den Spuren des Weihnachtsbaums“.
Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 826. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_826.jpg&oldid=- (Version vom 16.8.2022)