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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

zum Klappen. Woher weiß übrigens der Doktor, daß es Therese war?“

„Er weiß es nicht.“

„Na, was lamentierst Du dann so?“

Sie blickte ihn entsetzt an. „Fritz glaubt, ich sei da gewesen mit einem –“ Die Stimme versagte ihr.

„Ach, das ist ja köstlich! Du hast ihn hoffentlich bei dem Verdacht gelassen?“

„Ja!“ sagte sie bebend, „weil er es nicht überleben würde, daß Therese sich so schamlos benimmt.“

Frieder richtete sich in seiner ganzen Größe auf. „Schamlos? Nein, mein liebes Kind, diese Angelegenheit verstehst Du nicht, deshalb erlaube Dir auch kein Urtheil! Es ist viel von Dir, die Schuld auf Dich zu nehmen, ich bin Dir dankbar dafür und werde Dir diesen klugen Streich nie vergessen – Therese aber verschone mit Deiner Kritik! Sie kam auf meine Bitte in das Gartenhaus, damit wir endlich ungestort besprechen konnten, wie unsere Zukunft sich gestalten soll; sie liebt mich und beabsichtigt, sich von Fritz zu trennen – voilá tout!“

„Sie liebt Dich?“ fragte das Mädchen, vor deren Augen wirre Schatten tanzten, „das ist nicht wahr, das kann sie nicht gesagt haben, und wenn, so hat sie sich’s nur eingeredet. Du mußt fort, Frieder, heute noch, wenn Du ein Ehrenmann bist! Ich schicke Dir Deine Sachen nach. Therese wird zur Besinnung kommen, ich weiß es – – aber so mach’ doch Anstalten, es eilt!“ Und sie holte in fieberhafter Hast seinen Hut und Ueberzieher.

„Rege Dich nur nicht auf,“ sagte er gelassen, „es geht alles seinen richtigen Weg. Ich reise, wenn es Zeit ist und die Verhältnisse sich geklärt haben.“

„‚Seinen richtigen Weg‘ nennst Du das?“ rief sie und trat vor ihn mit sprühenden Augen. „Ist das recht, dem besten edelsten Menschen sein Glück abwendig zu machen?“

„Es ist die Vergeltung!“ antwortete er und drehte sich eine neue Cigarette. „Er hat mir die Braut abwendig gemacht; wie er es fertig gebracht, weiß ich nicht, jedenfalls aber unter der Maske des Biedermanns, die ihn trefflich kleidet. Uebrigens ist die Vergeltung ohne mein Zuthun gekommen – Therese hat mir gestanden, in ihr sei beim ersten Wiedersehen die alte Liebe erwacht.“

Julia wandte sich mit einer stummen Gebärde des Abscheus zum Gehen; sie fühlte sich zum Sterben elend.

„Wo willst Du denn hin?“ rief er ihr nach. „Ich rathe Dir, mache keine Thorheiten, sonst –“

Sie gab keine Antwort. Ihre Absicht war mißglückt, nun gab es nur noch einen Weg – Therese! Aber wie sie oben vor der Thür des Boudoirs stand, hörte sie die Stimme des Doktors, der sich besorgt nach dem Ergehen der Frau erkundigte, die ihn verrathen. Julia biß die Zähne zusammen und stieg wieder hinunter.

In ihrer Herzensangst wollte sie zur Räthin gehen, aber dann hatte sie doch soviel Besinnung, sich zu sagen, daß diese Frau das ganze Haus sofort in Aufruhr bringen würde, ja daß keine Möglichkeit mehr sei, das geschehene Unrecht gut zu machen, daß sein Glück doch verloren sei für immer. Und dennoch, es mußte etwas geschehen! Auf einmal fiel ihr der alte Krautner ein, und sie lief zur Hausthür.

„Wohin, wohin?“ erscholl da die Stimme der Räthin hinter ihr. „Bei uns ist Nachtwandeln nicht Mode, mein Fräulein! Die Mädchen aus unserem Hause bleiben abends ehrbar in der Stube.“ Und an ihr vorüber gehend, schloß die Räthin die Thür ab und steckte mit geflissentlicher Deutlichkeit den Schlüssel in die Tasche.

Nun wußte Julia, daß die alte Frau gehorcht hatte, daß noch heute abend die Mädchen in der Küche die willkommene Neuigkeit mit allen möglichen Ausschmückungen sich zuflüstern würden. Sie hätte aufschreien mögen vor Zorn und Weh. In diesem Augenblick kam der Doktor von oben herunter. Er schritt nach seinem Arbeitszimmer und wandte den Kopf nicht nach ihr, als er sagte. „Ich bitte, daß meine Frau heute abend nicht mehr gestört wird.“

Sie sah ihm stumm nach, dann ging sie in ihre Schlafstube; es war ihr nicht möglich, Tante Riekchen „Gute Nacht“ zu wünschen, nicht möglich, das Lager aufzusuchen. Ihr war, als müßten die engen Wände sie erdrücken, die Luft schien ihr unerträglich heiß. Mit nervöser Hast riß sie das Fenster auf. Dann begann sie im Zimmer auf und ab zu schreiten, ruhelos, mit gerungenen Händen. Von Zeit zu Zeit fuhr sie mechanisch über die schmerzende Stirn, auf der fencht das kurze Haar lag. Es war längst Mitternacht vorbei, als sie das stumme Wandern endlich aufgab.

Sie trug einen Stuhl an ihre Kommode und zog die oberste Lade heraus. Dort lagen sie alle wohlgeordnet, die kleinen Schätze ihrer freudenarmen Jugend. Gedankenlos nahm sie dies oder jenes Pappkästchen in die Hand und musterte den Inhalt. Da waren die geliebten verbotenen Ohrringe, da war die Nadel der Mutter, der kleine Dolch mit dem Mosaikgriff; dort ein paar Gedichtbücher, die hatte ihr Fritz geschenkt zur Konfirmation, endlich ein Buch mit leeren Blättern, das auf braunem Lederdeckel den goldgepreßten Titel „Tagebuch“ zeigte.

Es war eine Weihnachtsgabe Theresens gewesen, eines jener Geschenke, die gedankenlos ausgesucht und nur gegeben werden, weil doch nun einmal etwas geschenkt werden muß; sie hatte es am ersten Feiertag mit den übrigen mehr oder weniger nutzlosen Gaben in die Kommode gelegt, nicht ohne es vorher mit bitterem Lächeln zu betrachten. Was sollten ihr die Blätter, die so leer bleiben würden wie ihr Leben! Was hatte sie aufzuschreiben! Und dann hatte sie doch einmal die Feder eingetaucht und mit der großen kräftigen Schrift, die ihr eigen war, ein paar Worte hineingeschrieben:

„Wie meine Tage vergehen?
Ich will es künden Euch gleich –
Es macht mich kein einziger ärmer,
Und auch kein einziger reich!

Und wißt Ihr, warum ich so trübe,
Warum ich so trotzig mag sein?
Ich hatte viel Durst nach Liebe,
Und niemand schenkte mir ein.

Wohl sah ich im Glase blinken
Des Lebens goldigen Wein,
Sah alle die andern trinken –
Mich aber lud keiner ein.

Nur einmal hat es geschienen,
Als käm’ urplötzlich das Glück –
Es bot mir einer den Becher,
Den vollen, mit freudigem Blick.

Und zaub’risch spielten die Farben
Wohl auf des Kelches Grund –
Fassen wollt’ ich ihn, heben
Und trinken mein Herze gesund.

Doch wie ich mich beugte, zu nippen,
Da brach das Glas in Stück’ –
Und durstig blieben die Lippen
Und ferne blieb das Glück.

Das ist’s, warum ich so träbe,
Warum ich so trotzig mag sein;
Ich wollte nicht Mitleid für Liebe –
Nun bin ich ewig allein!“

Sie lächelte über das Gedicht, aber fast mitleidig, und wunderte sich, daß sie einmal etwas Gereimtes zustande gebracht hatte. Dann kam ihr der Gedanke, wie sie sich schämen müsse, wenn jemals eines anderen Menschen Auge das lese, und ihre Finger zuckten, das Blatt aus dem Buche zu reißen, es zu vernichten. Aber sie ließ die Hand doch wieder sinken – ein Gedanke packte sie, den sie vergebens abzuwehren trachtete. Warum denn, warum wollte sie durchaus das Opferlamm, den Friedensengel spielen? Warum jene Frau zwingen, ihrer Treue eingedenk zu bleiben? Was ging es sie an, wenn Therese sich von ihm trennte, um einem anderen anzugehören? Wurde er dann nicht frei? Und er würde den Schlag überwinden, gewiß! Ein Mann wie er stirbt nicht, wenn er etwas verliert, das ohnehin werthlos für ihn sein mußte. Und selbst wenn er nie von der Treulosigkeit seiner Frau erführe – was konnte ihm fernerhin eine Frau sein, die erst zurückgeführt werden mußte zu ihrer Pflicht, gewaltsam zurückgeführt? Eine glückliche Ehe konnte das nie wieder werden, nie! Er hätte der feinfühlige Mensch nicht sein müssen, der er war, um nicht zu empfinden, daß ein nur mühsam zusammengeflicktes Pflichtgefühl die Frau an seiner Seite hielt! War es also das Schlechteste für ihn, wenn er schonungslos jetzt erkannte, daß er betrogen sei? Hatte sie denn überhaupt das Recht, ihm die Wahrheit zu verschweigen? Die Sorge, ihn vor dem Verlust des Liebsten zu bewahren, Mitleid, Erbarmen, das für sich selbst nichts mehr will, nichts mehr sucht – das alles war heute auf sie eingestürmt, als sie das Tuch für ihr Eigenthum erklärt hatte. Aber war sie dabei nicht eine Thörin gewesen, das Opfer einer überspannten Anwandlung?

Ihr Herz bäumte sich auf gegen die Trostlosigkeit der Zukunft, die nun noch öder, einsamer für sie werden mußte – es raunte ihr allerhand süße hoffnungsselige Träume ins Ohr. Frei würde er sein, ihr würde er eines Tages gehören, und bei Gott, sie wollte ihm die Hände unter die Füße breiten, ihn alles vergessen machen, ihm alles verzeihen und sein Kind, das –

Ach, das Kind!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 842. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_842.jpg&oldid=- (Version vom 10.9.2023)