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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Das Kind sollte seine Mutter verlieren?

Und was für eine Mutter! sagte das rebellische Herz.

Aber sie war doch seine Mutter, und so ganz verkümmert konnte Theresens Seele doch nicht sein, daß sie nicht einst um des Sohnes willen die Stunde segnen würde, in der sie ihrem Lieblingstraum entsagt hatte, um bei dem Gatten zu bleiben. –

Und Julia hob den Kopf, und die heißen trockenen Augen sahen entschlossen in dem kleinen Raume umher.

Was wird aus Dir? fragte die verlockende Stimme.

Sie wußte es nicht. Sie hatte schon so vieles ertragen, warum nicht auch das noch, daß man sie für eine leichtsinnige, ehrvergessene Person hielt? – Doch nein, das würde sie nicht ertragen, seine Verachtung nie! Es wäre am besten, wenn sie sterben würde! In diesem Falle wäre es doch keine Feigheit, gewiß nicht!

O, das schöne Leben, die goldene Jugend! Wieviele Jahre lagen noch vor ihr, und wenn sie hinausginge, auf freien Füßen, irgendwo in der Welt mußte sie doch einen Platz finden, wo es Ruhe für sie gab, wo sie athmen konnte und die Sonne sehen und die schöne, schöne Welt!

Da – was war das? Droben über ihrem Zimmer wurde eine Thür heftig zugeschlagen, und nun war deutlich die weinende Stimme Theresens vernehmbar. Jetzt wohlbekannte Tritte durch den Flur herunter, das Knarren einer Thür – Fritz war in seine Studierstube gegangen. Was mochte das bedeuten? Sollte Therese – – Julias Glieder waren plötzlich schwer wie Blei; sie stand unbeweglich und lauschte. Das Schluchzen droben ward immer heftiger, jetzt unterschied sie auch die Stimme der alten Kinderfrau.

Julia war auf einmal entschlossen, wandte sich kurz um und ging hinauf. Im ganzen Hause war tiefe nächtliche Stille. Die Lampe im Flur brannte, sie wurde immer erst des Morgens ausgelöscht; Fritz wünschte dies so, für den Fall, daß er nachts zu einem Kranken gerufen würde. Julia stieg die Treppe empor; auf der obersten Stufe saß die schwarze Hauskatze und blinzelte sie verschlafen an; die alte Dielenuhr schlug drei Uhr, als Julia vorüberging.

Die Schmerzenslaute Theresens klangen jetzt ganz deutlich heraus, unangenehm wie die eines verwöhnten Kindes, das seinen Willen nicht durchsetzen kann. Julia nahm ihren Weg durch die Kinderstube. Im Schimmer der Nachtlampe sah sie das goldige Köpfchen des kleinen schlummernden Buben in den weißen Kissen und das leere Bett seiner Wärterin. Die Thür nach dem Schlafzimmer Theresens stand angelehnt, und die Stimme der alten Frau sagte gerade: „Aber, Frau Doktor, so beruhigen Sie sich doch nur und trinken Sie das Wasser! Was nutzt denn so ein Weinen? Sie werden sich nur krank machen.“

Julia ging ohne weiteres hinein. „Was ist Dir denn Therese?“ fragte sie, an das Bett der jungen Frau tretend, die ganz aufgelöst in Thränen schien und wie eine Verzweifelnde die Hände rang.

„Na, Gott sei Dank, Fräulein, daß Sie kommen!“ brummte jetzt die alte Frau, setzte das Zuckerwasser auf die Platte des Betttischchens und verschwand in ihrer Kinderstube.

Therese war emporgefahren und starrte Julia an.

„Ich hörte Dein Weinen unten,“ sagte diese, indem sie vorsichtig die Thür hinter der Alten schloß. „Was ist Dir? Bist Du krank?“

„Nein, aber ich werd’s schon werden nach dieser Behandlung!“ stieß Therese hervor und zupfte an den Spitzen, mit denen die blaue seidene Bettdecke besetzt war.

„Wer hat Dich denn so schlecht behandelt?“

„Wer? Lächerlich! Fritz natürlich! Wenn man sich nicht alles gefallen läßt, so ist man eben ungezogen, kindisch! Und ich habe weiter nichts gesagt als das: Warum er so ewig lange zu schreiben habe – er kam wieder einmal erst vor einer halben Stunde. Und da“ – sie begann wieder zu schluchzen – „da gab ein Wort das andere, und da hab’ ich schließlich gesagt – –-“

Die junge Frau verstummte und ein trotziger entschlossener Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht.

„Da hast Du gesagt,“ sprach Julia sehr langsam, „es wäre das Beste, Du würdest Dich von ihm trennen und den Lieutenant Adami heirathen.“

Therese sah die Sprecherin an, als stände ein entsetzliches Gespenst vor ihrem Lager. „Was willst Du damit sagen?“ stieß sie hervor.

„Nichts weiter als das, was Du seit heute nachmittag bestimmt weißt und worauf Du schon seit Wochen hinarbeitest. Nur fängst Du das jammervoll kleinlich an,“ fuhr sie fort. „Mit solch erbärmlichen Plänkeleien den Mann, der Dich mit seiner ganzen Seele liebt, soweit bringen zu wollen, daß er in eine Scheidung willigt, ist grausam, sinnlos. Hast Du nicht den Muth, es ihm ruhig zu sagen? Du hattest doch den Muth, mit Frieder bereits alles zu bereden!“

Therese war wie ohnmächtig zurückgesunken. „Wer hat Dir das verrathen?“

„Der Zufall – und Frieder bestätigte es.“

Es war jetzt ganz still im Zimmer. Julias Augen irrten durch das trauliche Gemach; dann heftete sie ihren Blick wieder auf die Frau, die unbeweglich dalag und sie mit angstvollen verstörten Augen anstarrte.

„Willst Du mich anhören?“ fragte Julia, ohne ihre Stellung am Fuße des Bettes zu verlassen; sie stützte nur leicht ihren Arm gegen den dunklen Nußbaumknauf. „Ich möchte Dich bitten Therese – –“

„Mach’ mir keine Vorwürfe,“ unterbrach die junge Frau sie heftig, „ich kann nichts dafür, daß ich den Frieder liebe – Du verstehst das freilich nicht – Du nicht.“

„Ich verstehe es nicht, nein! Das heißt, ich verstand es einst, daß Du den Frieder liebtest – –“

„Ihr habt ja alle nicht gewollt, daß ich ihn heirathen sollte,“ murmelte sie.

„Das ist nicht wahr!“ antwortete Julia fest.

„Nicht wahr? Mein Vater drohte mir sogar mit Enterbung, und Du – weigertest Dich, mir zu helfen.“

„Ehrliche, standhafte Neigung hätte Deinen Vater bezwungen – –“

„Lächerlich! Du hast gut reden – aber jung wie ich damals war . . .“

„Das ist keine Entschuldigung für Dein Verhalten. Und jedenfalls – Du hast den Fritz genommen und wirst ihn auch behalten, Therese.“

„Nein! Ich kann nicht, ich liebe ihn nicht mehr! Ich bitte Dich, verlasse mich! Du hast nie ein Herz für mich gehabt und fühlst nicht mit mir, willst es nicht! Geh’, bitte, geh’!“

„Nicht eher, als bis Du mir versprichst, an Frieder zu schreiben, daß er sofort abreise!“

„Nein! Nein!“

„Aber kannst Du denn überhaupt einen Athemzug thun in der zweifelhaften Stellung, in der Du Dich befindest?“ rief Julia außer sich. „Also entweder schreibst Du jetzt an Frieder und machst dieser Thorheit für immer ein Ende – oder aber Du sagst Fritz morgen alles wahr und offen!“

„Niemals – ich fürchte mich!“ stieß Therese hervor, und die Zähne schlugen ihr zusammen.

„Dann werde ich zu Deinem Vater gehen.“

„Das wirst Du nicht thun! Was geht Dich die Sache an? Mit welchem Rechte spielst Du Dich als Sittenrichterin über mich auf, Du, die Du selbst nicht besser bist!“

Julia sah die junge Frau hilflos an. „Ich?“ sagte sie.

„Ja, Du! Oder denkst Du, ich weiß nicht, daß Du Fritz leidenschaftlich liebst? Daß Du ihn mir nie gegönnt hast?“

Eine fahle Blässe legte sich auf Julias Gesicht.

Wieder eine Pause. Aus dem Nebenzimwer tönte das weinerliche Stimmchen des Kleinen herüber.

„Therese,“ sagte Julia, und herzustürzend kniete sie am Bette nieder. „Hör’ doch – an Dein Kind hast Du nicht gedacht, an Dein Kind, das Ihr beide liebt!“

Da warf sich die junge Frau ungestüm zur Seite. „O, ich wollte, es wäre nie geboren!“ schrie sie auf.

„Du versündigst Dich, Therese –“

„Es mag sein; es mag auch sein, daß ich schlecht bin, aber ich kann, ich will nicht anders.“

„Und Dein alter Vater?“

„Mein Vater?“ Und Therese lachte höhnisch auf. „Mein Vater, der ist verliebter in Deinen Bruder als ich – hast Du das noch nicht bemerkt?“

„Ja, er hat ihn gern; aber wüßte er, daß er einem Betrüger Gastfreundschaft gewährt –“

„Einem Betrüger? Wir betrügen keinen! Wenn Fritz nicht so grenzenlos von sich eingenommen wäre – seit Monaten hätte er es merken müssen, daß ich ihn nicht mehr liebe.“

Julia rang nach Fassung. „Noch einmal, Therese, willst Du Frieder schreiben, daß er reise?“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 843. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_843.jpg&oldid=- (Version vom 18.6.2023)