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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892)

Menschen aller Stände, und auch die alte „Gesellschaft“ war darin reichlich vertreten. Bei den Karmelitern besonders. Delphine von Custine, jetzt nach dem Gleichheitskodex einfach „Bürgerin Custine“, fand in dem großen Refektoriumssaal, wo tagsüber die Gefangenen, weibliche wie männliche, sich aufhalten durften, eine große Anzahl von Personen, denen sie früher schon in den Salons begegnet war, „Ex-Adlige“ wie sie, reizende Frauen, die gleich ihr die Guillotine in Aussicht hatten, und geistreiche Herren, die mit gutem Humor hier in dem wüsten Treiben durch ihren Witz und ihre Galanterien wie einst sich angenehm zu machen suchten. Mitten im Gefängnißsaal bildeten sie einen aristokratischen „Salon“ und führten im Geschmack desselben ihre Unterhaltung. Die neu Ankommenden wurden von ihren Bekannten vorgestellt. Frau von Lameth, Frau von Jarnac, Frau Josephine von Beauharnais, deren Gemahl wie Custine wegen der Preisgabe von Mainz der Verrätherei angeklagt war und seinen Prozeß erwartete. Alle Tage rief der Kommissar des Gerichts aus diesem Kreise diejenigen ab, die vor ihren Richtern erscheinen sollten und die dann selten wiederkamen. Manche wurden ja wohl auch freigesprochen oder aus der Haft entlassen. Die Zurückgebliebenen rückten enger aneinander. Wohl konnte der nächste Tag wieder neue Lücken in ihre Reihen reißen. Aber der Tod, das Schafott hatte keine Schrecken mehr. So entsetzlich es klingt, es geschah doch oft, daß sich diese lebenslustige Gesellschaft die Zeit mit „Hinrichtung spielen“ vertrieb, und laut wurden die Damen beklatscht, welche mit Grazie auf den Stuhl stiegen, der das Schafott vorstellen sollte.

Mehrmals wurde Delphine abgerufen um unter Bedeckung in ihre Wohnung geführt zu werden, wo neue Haussuchungen stattfanden. Auch die Briefkassette wurde bei einer solchen gefunden. Sie grämte sich nicht darüber. Durfte sie dabei doch die Freude erleben, ihren kleinen, zweijährigen Sohn wiederzusehen, den man mit seiner Wärterin Nanette in der Küche gelassen hatte und den die treue Dienerin mit ihrer Hände Arbeit ernährte.

Einer der Kommissare, von welchen Delphine bei diesen Gelegenheiten verhört und überwacht wurde, war ein Maurer von Beruf und hieß Albert Gérôme. Als fanatischer Jakobiner hatte er sich eine Vertrauensstellung im Sicherheitsausschuß und bei Fouquier-Tinville errungen. Er sah, wie die unglückliche junge Frau an dem Wiedersehen mit ihrem Kinde sich aufrichtete, er lernte den Schmerz kennen, von dem ihr Gemüth verwüstet wurde, und den Heldensinn, mit dem sie ihn zu beherrschen und ihrem tragischen Schicksal zu trotzen wußte. Hunderte von Opfern der Schreckenspolitik Robespierres und der Blutgier Fouquiers hatte Gérôme schon mitleidslos den Weg zum Schafott geführt. Delphine von Custine aber wollte er vor dem Tode retten. Als ein geheimnißvoller Beschützer setzte er für sie seinen eigenen Kopf aufs Spiel. Er hatte in Fouquier-Tinvilles Bureau die Verhörsprotokolle zu ordnen, nach denen dieser täglich seine Anklagen ausarbeitete. Immer schob er die auf Delphine bezüglichen Schriftstücke zu unterst des Aktenstoßes, so daß sie dem vielbeschäftigten Ankläger gar nicht in die Hände fielen. Monatelang trieb er dies verwegene Spiel. Die junge Gefangene im Karmeliterkloster erwartete vergeblich, endlich vor Gericht geholt zu werden. Einer nach dem andern ihrer Unglücksgefährten wurde dahin abgerufen; sie blieb zurück, als sei sie auf einmal vergessen. Daß sie dies jenem Kommissar Gérôme verdankte, der bei den Verhören in ihrer Wohnung stets am ergrimmtesten über die Aristokratie loszog, davon hatte sie keine Ahnung.

Dann kam jener Thermidortag, wo Robespierres und Fouquier-Tinvilles Schreckenssystem zusammenbrach, da die Kerker sich öffneten und die Blutgerichte ihre Arbeit einstellten. Noch immer aber that sich für Delphine das Eisenthor des Gefängnisses nicht auf. Zwei Monate vergingen, dann endlich schlug auch für sie die Stunde der Erlösung. Nanette, die Wärterin ihres Kindes, erwirkte durch ihre Fürsprache das Freilassungsdekret des Sicherheitsausschusses, und unter diesem stand geschrieben:

„Wir, Vorsteher der neugestalteten Polizei, bestätigen die Unterschriften dieses als wahr und richtig. Paris, 17. Vendémiaire, III. Jahr der Republik. Gérôme, Albert.“     

Gérôme also –! Delphine erinnerte sich seiner noch sehr wohl, des jungen Sansculotten, der sie stets am bittersten geschmäht. Jetzt aber war sein Reich und seine Schrecklichkeit für sie zu Ende. Sie war frei, uach acht Monaten wieder ihrem Kinde und sich selbst zurückgegeben.

Aber blutarm war sie und dazu krank von den Leiden und Entbehrungen, die sie in der Haft ausgestanden hatte. Nanette, die treue Seele, mußte nun auch für ihre Herrin den Lebensunterhalt beschaffen. Gelegentlich kam freilich an die Dienerin eine kleine Geldsumme von unbekannter Hand als werthvolle Unterstützung. Endlich aber erhielt Delphine selber durch ihre Mutter und ihre Freunde erheblichere Mittel zugestellt und konnte sich wieder eine kleine trauliche Häuslichkeit einrichten. Sie vermochte nun auch denen wohlzuthun, die, wie Luise und Nanette, in der Noth ihr beigestanden hatten.

Eines Tages kam in der Dunkelheit ein vermummter Mann zu ihr in die Wohnung. Er erzählte ihr, wie sie vor Fouquier-Tinvilles Bluthand bewahrt worden war, er bekannte sich auch als den geheimen Absender jener kleinen Summen an Nanette. Dieser Mann, dem sie ihr Leben verdankte, war jetzt selbst ein Verfolgter, die Rache der Thermidoristen suchte ihn, den Jakobiner und eifrigen Agenten des Sicherheitsausschusses. Jetzt bat er Delphine, ihm in seiner Noth zu helfen, und nicht umsonst. Trotz aller Gefahr, welche sie dabei lief, verbarg sie ihn, verschaffte ihm einen Paß und gab ihm eine Summe, mit der er aus Frankreich entkam und nach Amerika flüchten konnte. – –

Die Stürme hatten ausgewüthet; öffentliche Ruhe und Sicherheit der Person kehrten zurück, und die Lebensverhältnisse in Paris gestalteten sich wieder freundlicher. Die Leidenschaften tobten sich im Kriege außerhalb Frankreichs aus, und die Geister suchten sich in der neuen Ordnung der Dinge zurechtzufinden. Frau von Custine konnte sich um Rückerstattung ihres konfiszierten Vermögens bewerben, und die Freundschaft, die sie mit Josephine von Beauharnais im Gefängniß geschlossen hatte, kam ihr hierbei zu nutze. Die reizende Kreolin, wie Delphine durch die Guillotine zur Witwe geworden, war die Freundin des Direktors Barras, der an der Spitze Frankreichs stand, und wurde dann die Frau des jungen Generals Bonaparte, der bald der gewaltige Herr des Landes werden sollte. Durch Josephine lernte sie auch Fouché, den späteren Polizeiminister, kennen, auf den ihre Schönheit und ihr Geist einen tiefen Eindruck machten. Diese Fürsprecher und Vermittler enthoben sie ihrer äußeren Bedrängniß; sie erhielt einen großen Theil ihrer beschlagnahmten Güter zurück, konnte ihre Mutter in der Schweiz wiedersehen und dann auch deren Rückkehr nach Paris ermöglichen.

Doch wie leer kam Delphine die Welt jetzt vor! Jene Gesellschaft, in der sie einst so glücklich und mit einem Herzen so voll von Empfänglichkeit gelebt hatte, gab es nicht mehr. Frauen verwandten Geistes, mit denen sie innige Neigung verband, wie Josephine, wie vor allem Frau von Staël, genügten ihr doch nicht für ihre Herzenswelt. Ihr junges Gemüth verzehrte sich in Sehnsucht, und für die große Leidenschaft, zu der sie sich nach ihrem Sturz aus der ersten, wolkenlosen Glückseligkeit wieder hätte erheben können, fand sich der rechte Mann nicht.

„Ich bin müde meines leeren und einsamen Daseins,“ schrieb sie ihrer Mutter 1797. „Ich würdige keineswegs den Werth meiner Freiheit!“ Und ein andermal: „Ich möchte einen Gatten finden, der, vernünftig und gefühlvoll, denselben Geschmack hätte wie ich und alle die Empfindungen mir entgegentrüge, aus denen sich mein Wesen zusammensetzt; einen Gatten, der fühlte, daß, um glücklich zu leben, er bei mir sein muß und mich führen und meinen Sohn lieben, als wär’ es sein eigener; der, sanft von Gesinnung und Charakter, Philosoph, gebildet, keine Scheu hätte vor Widrigkeiten, sie sogar kennen müßte, aber den Ausgleich aller Uebel darin fände, eine Lebensgefährtin wie Deine Delphine zu besitzen: das ist es, was ich finden möchte und was ich – ich fürchte es – niemals finden werde.“

Und doch fand sie ihn, diesen für sie idealen Mann. Im Jahre 1803 lernte sie den Vicomte von Chateaubriand kennen, den ruhmgekrönten Verfasser des „Genius des Christenthums“, der einen magischen Zauber auf Delphine ausübte. Auch er wurde von Leidenschaft für sie ergriffen. „Wenn ich Sie verlassen müßte,“ schrieb er ihr damals, „so würde ich mich töten.“ Aber er war bereits vermählt, noch befangen in der ganzen Wandelbarkeit seines Wesens, zerklüftet im Gemüth, dabei ehrgeizig über alles und begierig nach einer hohen Stellung im Staat. Durch Delphinens Vermittlung bei Josephine, der Gemahlin des nun allmächtig gewordenen ersten Konsuls Napoleon Bonaparte, wurde er in die diplomatische Laufbahn eingeführt und als Legationssekretär nach Rom gesandt.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1892). Leipzig: Ernst Keil, 1892, Seite 863. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1892)_863.jpg&oldid=- (Version vom 20.5.2023)