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verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Du zu viel ißest, so kommt der Doktor und giebt Dir bittere Arznei oder setzt Dir Blutegel an!“ Oder: „Wenn Du unartig bist, so kommt der schwarze Schlotfeger und nimmt Dich mit!“ Was folgt dann? Sowie der Doktor an das Bett des kleinen Patienten tritt – weint, schreit, brüllt dieser mörderlich. Wie soll man da die Temperatur prüfen, wie den Puls fühlen, wie den Leib betasten! Stundenlang dasitzen und abwarten, bis der Tumult sich gelegt hat und der Ermüdung gewichen ist, kann man auch nicht!

Da nahm ich rasch das Notizbuch aus der Tasche, ein Blatt wird herausgerissen, ein kleiner Bube mit dem Bleistift schnell hingezeichnet und nun erzählt, wie sich der Schlingel nicht die Haare, nicht die Nägel schneiden läßt; die Haare wachsen, die Nägel werden länger, aber immer läßt er sich dieselben nicht schneiden, und immer länger zeichne ich Haare und Nägel, bis zuletzt von der ganzen Figur nichts mehr zu sehen ist als Haarsträhne und Nägelklauen. Das frappiert den kleinen Desperaten derart, daß er schweigt, hinschaut, und mittlerweile weiß ich, wie es mit dem Pulse steht, wie seine Temperatur sich verhält, ob der Leib oder die Athmung schmerzhaft ist – und der Zweck ist erreicht.


Dr. Heinrich Hoffmann-Donner.
Nach einer Photographie von Prof. Erwin Hanfstaengl, k. k. Hofphotograph in Frankfurt a. M.


Als mein Buch fertig war bis auf das letzte Blatt, da war aber auch mein Bilderschatz zu Ende. Was sollte ich nun auf dies letzte leere Blatt bringen? Ei nun, da setzen wir den Struwwelpeter hin! So geschah es, und deshalb stand dieser Bursche in der ersten Auflage des Buches auf der letzten Seite. Aber die Kinderwelt traf das Rechte und forderte das Buch einfach: „Ich will den Struwwelpeter!“ Nun rückte das Blatt auf den Ehrenplatz vorn, und der frühere Titel machte dem jetzigen Platz. Also hieß es auch hier: „Die Letzten sollen die Ersten werden!“

Das Originalexemplar kam auf den Weihnachtstisch, mein Söhnchen hatte seine helle Freude daran. Nach einigen Tagen fand die Taufe des Mädchens statt, und da bekamen auch die eingeladenen Familienglieder des Vaters Wunderwerk zu sehen. Nun hieß es hier: „Das mußt Du drucken lassen; das darf der Junge nicht, wie zu erwarten ist, in ein paar Tagen zerreißen!“

Ich aber lachte und frug, ob man denn von mir erwarten könne, daß ich ein Kinderbilderbuchfabrikant werde. Aehnliche Anforderungen kamen noch in den nächsten Tagen.

Nun blühte damals eine kleine literarische Gesellschaft, die ich mit meinem verstorbenen Freunde, dem Musiker Schnyder von Wartensee, zusammengebracht hatte (denn diese Art von Gründungen gehörte damals zu meinen Lieblingsbeschäftigungen). In einem kleinen Zimmer eines still in der Mitte der Stadt gelegenen Gasthofs versammelten wir uns einmal in der Woche; wir hatten sonderbare Satzungen und nannten unseren Verein „Die Bäder im Ganges“. Der Brahma war Vorsitzender und Wischnu der Schriftführer. Hier zeigte ich meine Kinderei vor – derselbe Beifall! Unter den Versammelten war auch der Buchhändler Dr. Löning, der mit seinem Freunde J. Rütten erst vor kurzem eine Buchhandlung unter der Firma „Literarische Anstalt“ gegründet hatte. Löning sagte sogleich, ich solle ihm das Buch geben, er wolle es drucken lassen. Nun, in heiterer Weinlaune vergaß ich die frühere Weigerung und erwiderte scherzend: „Meinetwegen! Geben Sie mir 80 Gulden und versuchen Sie Ihr Glück!“ Er nahm das Heft, und so war ich nachts 11 Uhr, fast ohne recht zu wissen, was ich gethan hatte, mit einem Male ein Jugendliterat geworden! Freilich hatte ich schon vorher in Versen, Gedichten und Liedern allerlei veröffentlicht, dessen ich hier nicht weiter gedenken will. Meinen kleinen Sohn daheim tröstete ich dann mit der Aussicht, daß er bald durch zwei neue Bücher, viel schönere als das weggegebene, entschädigt werden sollte.

Nun aber kam die Ausführung. Meine Freunde, die Verleger, waren in solchen Dingen eben noch nicht sehr erfahren, Die Bilder wurden lithographiert; ich mußte aber den Zeichner täglich überwachen, daß er meine Dilettantengestalten nicht etwa künstlerisch verbesserte und in das Ideale hinein gerieth, er mußte Strich für Strich genau kopieren, und ich revidierte jede Steinplatte. Dann gab ich den Herren noch einige praktische Rathschläge. Kinderbücher, sagte ich, müssen solid aussehen, aber nicht sein, sie sind nicht allein zum Betrachten und Lesen, sondern auch zum Zerreißen bestimmt. Das ist kindlicher Entwicklungsgang, und darin liegt ein Vortheil solcher Fabrikation, die Kinderbücher vererben sich nicht, sondern sie müssen neu angeschafft werden; dies zu fördern, gehören starke Pappdecken und schwache Rücken. Und dann muß das Buch billig sein, mehr als 59 Kreuzer darf es nicht kosten, dann heißt es: „Das kostet ja nicht einmal einen Gulden!“ Kostet es aber 60 Kreuzer, so sagt man: „Das Ding ist zu theuer; es kostet ja einen Gulden!“ Alles dies wurde beachtet und befolgt, und der Struwwelpeter betrat die Bühne der jugendlichen Welt. Es waren 1500 Exemplare hergestellt worden.

Nach etwa vier Wochen kam Löning zu mir mit der Mittheilung, daß wir einen glücklichen Gedanken gehabt hätten, die Exemplare seien alle fort, sie seien verschwunden wie ein Tropfen Wasser auf einem heißen Steine. Nun machten wir einen förmlichen Vertrag; ich war in meinen Ansprüchen bescheiden, um den Preis des Büchleins nicht zu erhöhen. Niemand war, das kann ich ehrlich versichern, über das blitzähnliche Einschlagen der bunten Geschichten mehr überrascht als ich; das hätte ich mir im Traume nicht eingebildet. Später hat man auch sogenannte „unzerreißbare“ Exemplare gefertigt; sie mögen wohl recht wetterhart sein, ich bezweifle aber, daß sie je die Dauer ägyptischer Papyrusrollen erreichen werden, denn Kinderbücher gehen ja „reißend“ ab. Der Absatz wuchs mit jedem Jahre und steht jetzt nach 47 Jahren auf einem jährlichen Verbrauch von etwa 30 000 Exemplaren der fünf Bilderbücher zusammen. Ja, ich kann mir mit Befriedigung sagen, der Schlingel hat sich die Welt erobert, ganz friedlich, ohne Blutvergießen, und die bösen Buben sind weiter auf der Erde herumgekommen als ich; in ganz Europa sind sie heimisch geworden, ich habe gehört, daß man ihnen in Nord- und Südamerika, am Kap der Guten Hoffnung, in Indien und Australien begegnet ist. Sie haben allerlei Sprachen gelernt, die ich selbst nicht verstehe, denn ich habe eine russische, schwedische, dänische, holländische, französische (schlechte), italienische, spanische und aus der jüngsten Zeit noch eine portugiesische Uebersetzung in Händen; daß man sie in Nordamerika lustig nachdruckt, ist ganz selbstverständlich. Nun freilich, Reisen um die Welt sind heutzutage nichts Außerordentliches mehr, sogar nur Spazierfahrten.

Die Herstellung des Buches ist nunmehr auch eine wesentlich andere geworden, statt in Lithographie sind die Bilder in Holzschnitt übertragen und die Holzschnitte galvanisch in Kupferplatten, um sie zu schonen; das Kolorieren durch Schablonen besorgt eine Schar von Mädchen in einem Orte im Rheingau und das Einbinden in großen Haufen ein Buchbinder in der Nähe

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verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Ernst Keil's Nachfolger, Leipzig 1893, Seite 18. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_018.jpg&oldid=- (Version vom 17.10.2019)