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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Sie halten also keine andere Lösung für möglich?“ nahm Dernburg wieder das Wort, indem er aus einer vor ihm liegenden Mappe ein Papier nahm und es ausbreitete. „Sehen Sie sich einmal dies hier an, meine Herren! Hier geht die Leitung gleichfalls von dem oberen Grunde aus, aber sie durchbricht den Buchberg und wird dann ohne jede weitere Schwierigkeit über Radefeld selbst nach den Werken geführt – da ist die gesuchte Lösung!“

Die Beamten sahen etwas verblüfft aus und beugten sich eifrig über die Zeichnung, an diesen Plan hatte offenbar noch keiner von ihnen gedacht, aber sie schienen ihn nicht mit besonderem Wohlwollen zu betrachten.

„Der Buchberg soll durchbrochen werden?“ fragte der Direktor. „Ein sehr kühner Gedanke, der allerdings große Vortheile bieten würde, allein ich halte ihn nicht für ausführbar.“

„Ich auch nicht,“ stimmte der Oberingenieur bei. Jedenfalls bedarf es einer eingehenden Untersuchung, um zu erfahren, ob das möglich ist. Der Buchberg –“

„Wird zu meistern sein,“ unterbrach ihn Dernburg. „Die Vorarbeiten sind bereits geschehen, Runeck hat, während er da draußen die Vermessungen vornahm, die Möglichkeit festgestellt und mir in der beiliegenden Erläuterung ausführlich darüber berichtet.“

„Der Plan stammt also wohl auch von ihm?“ fragte der Vorsteher des technischen Bureaus.

„Von Egbert Runeck – allerdings.“

„Das dachte ich mir.“

„Was meinen Sie, Herr Winning?“ fragte Dernburg, sich rasch zu ihm wendend.

Herr Winning beeilte sich, zu versichern, daß er gar nichts Besonderes meine, die Sache interessiere ihn nur, weil er der unmittelbare Vorgesetzte des jungen Technikers sei; die beiden anderen schwiegen, aber sie sahen ihren Chef mit eigenthümlich fragenden Blicken an, was dieser nicht zu bemerken schien.

„Ich habe mich für Runecks Plan entschieden,“ sagte er ruhig, aber doch mit einer gewissen Schärfe. „Er entspricht allen meinen Anforderungen, und der Kostenanschlag wird nur etwa die Hälfte des Ihrigen erreichen. Ueber die Einzelheiten muß natürlich noch Rücksprache genommen werden, jedenfalls sollen die Arbeiten sobald als möglich beginnen. Wir reden noch darüber, meine Herren.“

Er erhob sich und gab damit das Zeichen zur Entlassung, die Beamten verneigten sich und gingen. Draußen im Vorzimmer aber blieb der Direktor stehen und fragte halblaut:

„Was sagen Sie dazu?“

„Ich begreife Herrn Dernburg nicht,“ antwortete der Oberingenieur gleichfalls mit vorsichtig gedämpfter Stimme. „Weiß er wirklich nichts oder will er es nicht wissen?“

„Natürlich weiß er es, Ich selbst habe ihm Nachricht darüber gegeben, und der Herr Sozialist denkt ja auch gar nicht daran, ein Geheimniß aus seiner Richtung zu machen, er bekennt sich rückhaltlos dazu. Das sollte ein anderer wagen hier in Odensberg, er würde auf der Stelle den Laufpaß erhalten, aber von Runecks Entlassung scheint noch lange keine Rede zu sein. Da wird sein Plan ohne weiteres angenommen, während man uns sehr deutlich zu verstehen giebt, daß die unsrigen nichts taugen – das übersteigt denn doch –“

„Warten Sie erst ab!“ unterbrach Winning ruhig: „In dem Punkte versteht unser Chef keinen Spaß, das wissen wir alle. Er wird schon zur rechten Zeit ein Machtwort sprechen, und fügt sich Runeck dann nicht unbedingt, so ist’s aus, mag er zehnmal der Lebensretter und Jugendfreund des jungen Herrn sein. Verlassen Sie sich darauf!“

„Wir wollen es hoffen“ sagte der Direktor. „Was übrigens Herrn Erich betrifft, so sieht er doch noch recht angegriffen aus und befleißigt sich einer merkwürdigen Schweigsamkeit. Er hat bei unserer ganzen Berathung nicht zehn Worte gesprochen.“

„Weil er nichts davon versteht,“ erklärte der Oberingenieur achselzuckend. „Eingetrichtert hat man ihm ja genug, aber offenbar ist sehr wenig davon haften geblieben. Von seinem Vater hat er nichts geerbt, weder äußerlich noch innerlich. Doch ich muß fort, ich will nach Radefeld hinausfahren – guten Morgen, meine Herren!“ – –

Im Arbeitszimmer waren Vater und Sohn allein zurückgeblieben, und der erstere ging schweigend, in offenbarer Verstimmung auf und nieder.

Eberhard Dernburg stand trotz seiner sechzig Jahre noch in der Vollkraft des Lebens, und nur das völlig ergraute Haar und die Falten auf der Stirn gaben Zeugniß davon, daß er bereits die Schwelle des Alters erreicht hatte. Das Gesicht mit den festen ernsten Zügen verrieth es nicht, der Blick war noch scharf und klar, die hohe Gestalt ungebeugt. Haltung und Sprache waren die eines Mannes, der gewohnt ist, zu befehlen und unbedingten Gehorsam zu finden, und schon in seinem Aeußeren gab sich etwas von jener eisernen Natur kund, die Freund wie Feind an ihm kannten.

Man sah es jetzt recht deutlich, daß sein Sohn auch nicht einen Zug des Vaters hatte, aber ein Blick auf das lebensgroße Brustbild, das über dem Schreibtisch hing, erklärte das einigermaßen. Es stellte die verstorbene Gattin Dernburgs dar, und Erich war ihr zum Sprechen ähnlich. Es war dasselbe Antlitz mit den feinen aber unbedeutenden Zügen, den weichen verschwimmenden Linien, dem träumerischen Blick.

„Da sitzen nun meine Herren Oberbeamten mit ihrer ganzen Weisheit,“ begann Dernburg endlich in spöttischem gereizten Tone. „Monatelang haben sie sich mit der Aufgabe herumgeschlagen, haben alle möglichen Entwürfe ausgeheckt, von denen keiner ’was taugte, und Egbert, der gar keinen Auftrag hat, macht in aller Stille bei seinen Vermessungen die nöthigen Vorstudien und legt mir jetzt einen fertigen Plan auf den Tisch, der geradezu meisterhaft ist! Wie findest Du seinen Entwurf, Erich?“

Der junge Mann blickte verlegen auf die Zeichnung, die er noch in der Hand hielt.

„Du findest ihn ja vortrefflich, Papa, ich – verzeih, aber ich kann noch nicht recht klug daraus werden.“

„Nun ich dächte, er wäre klar genug, und Du hast ihn seit gestern abend in Händen. Wenn Du so viel Zeit brauchst, einen einfachen Plan zu begreifen, dem alle nöthigen Erläuterungen beigegeben sind, wie willst Du dann den schnellen Ueberblick gewinnen, der für den einstigen Herrn der Odensberger Werke unbedingt nothwendig ist?“

„Ich bin volle anderthalb Jahre ferne gewesen,“ wandte Erich ein, „und während der ganzen Zeit haben mir die Aerzte die höchste Schonung zur Pflicht gemacht, jede geistige Anstrengung verboten. Du mußt Nachsicht haben, Papa, und mir Zeit lassen, mich wieder einzugewöhnen.“

„Du hast von jeher geschont und vor der Arbeit förmlich behütet werden müssen,“ sagte Dernburg mit gerunzelter Stirn. „Bei Deiner fortwährenden Kränklichkeit konnte von einem ernsten Studium gar nicht die Rede sein, von einer praktischen Thätigkeit vollends nicht. Ich hatte meine ganze Hoffnung auf Deine Rückkehr aus dem Süden gesetzt, und nun – sieh nicht so trostlos aus, Erich! Ich mache Dir ja keinen Vorwurf, es ist nicht Deine Schuld, aber es ist ein Unglück bei der Stellung, zu der Du berufen bist.“

Erich unterdrückte einen Seufzer, er empfand diese vielbeneidete Stellung wieder einmal als eine recht schwere Last. Sein Vater fuhr ungeduldig fort:

„Was soll denn werden, wenn ich nicht mehr da bin? Ich habe tüchtige Beamte, aber sie sind allesammt von mir und meiner Leitung abhängig. Ich bin es gewohnt, alles selbst zu thun, ich lasse die Zügel nicht aus der Hand, und Deine Hand, fürchte ich, wird sie niemals allein führen können. Ich habe längst die Nothwendigkeit eingesehen, Dir eine Stütze für die Zukunft zu sichern – und gerade jetzt macht mir der Egbert den unsinnigen Streich und läßt sich von den Sozialdemokraten ins Netz ziehen! Es ist zum Tollwerden!“

Er stampfte heftig mit dem Fuße. Erich blickte mit einer gewissen Scheu auf den Vater, dann sagte er leise:

„Vielleicht ist die Sache nicht so schlimm, wie man Dir berichtet hat. Der Direktor mag manches übertrieben haben.“ Nichts ist übertrieben, meine Erkundigungen haben jedes Wort bestätigt. Diese Studienzeit in dem verwünschten Berlin ist dem Jungen verhängnißvoll geworden. Es hätte mich freilich stutzig machen sollen, daß er mir schon nach den ersten Monaten schrieb, er brauche die Mittel nicht, die ich ihm für seine Ausbildung zur Verfügung gestellt, er werde sich mit Zeichenunterricht und sonstigen Arbeiten allein durchbringen. Es mag ihm sauer genug geworden sein, aber mir gefiel sein Stolz und Unabhängigkeitssinn

und ich ließ ihm den Willen. Jetzt sehe ich klarer!

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 23. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_023.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)