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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Zu ihrer Beunruhigung wurde Hilde aber den ganzen Vormittag von der Mutter in Anspruch genommen und erst in den späteren Stunden des Nachmittags, als die häuslichen Arbeiten erledigt waren, fand sie Zeit, zu der Unglücköstätte zurückzukehren. Vorsichtig um sich spähend wie ein Indianer auf dem Kriegspfad, schlich sie auf einem weiten Umweg zu der Strandhöhe hinauf.

Ihr gestriger Ruheplatz lag einsam und friedlich da, nichts Verdächtiges regte sich. So wagte sie denn, näherzutreten, und war schon im Begriff, die Nadel mit den verschlungenen Buchstaben H. G. ihrem Vorsatz gemäß auf die Bank zu legen, als von der Bucht herauf leise aber deutlich ein Pfeifen an ihr Ohr drang, das die berühmte Weise „Ach, du lieber Augustin“ zum besten gab. Spähend trat Hilde vorwärts bis an einen Punkt, der einen Ausblick gestattete. Sie erblickte unten ein reizendes Lustfahrzeug und darin einen weißgekleideten Marinematrosen, der auf dem Dache der Kajüte saß, eine Arbeit in den Händen und dabei unverdrossen seine schöne Melodie pfeifend.

Er war allein. Keine Seele sonst weit und breit! Das Köpfchen des Mädchens wurde von den verschiedensten Gedanken durchkreuzt. War das Boot heute da, so hatte es auch gestern da sein können, und dann gehörte es sicherlich ihm. Und wie gestern, so war wohl auch heute der Besitzer des Fahrzeugs fortgegangen um – ja, was mochte er heute im Schilde führen? Wollte er am Ende gar sie selber suchen?

Ein Lächeln, ein drollig triumphierendes, kindliches Lächeln flog über ihr rosiges Gesicht. Mochte er suchen! Sie steckte einstweilen im sicheren Busch! Aber wie wär’s denn, wenn sie da drunten die Nadel anbrächte? Diese war doch eigentlich zu kostbar, um sie einem Zufall preiszugeben. Und dann – wenn sie je ein dreistes Geschenk hatte sein sollen, so mußte die Rückgabe dem ungebetenen Spender ein höchst niederdrückendes Gefühl bereiten ! –

Der gute Frettwurst pfiff ahnungslos immer noch weiter, als plötzlich ein zierliches Mädchen auf den Steg getrippelt kam, Ueberrascht blickte er auf und musterte eingehend die unerwartete Erscheinung. „Ein mobiles Frauenzimmerchen!“ dachte er. „Und eine Dame – oder wenigstens bald eine,“ fuhr er mit stiller Hochachtung in seinen Gedanken fort.

Hilde hatte eine hoheitsvolle Miene aufgesetzt. Zunächst schlenderte sie bis zum Ende des Stegs, als ob Frettwurst nebst seiner „Bachstelze“ sie nicht das Geringste anginge. Nachdem sie dann eine Weile mit erhobenem Näschen über das Hafenbecken geschaut hatte, drehte sie sich um und zurückwandernd, dem Matrosen fast unmerklich zunickend, blieb sie vor dem Fahrzeug stehen.

„Hübsches Boot, die ‚Bachstelze‘!“ sagte sie nachlässig.

Dieser Gnadenbeweis veranlaßte den höflichen Frettwurst, an seine Mütze zu greifen. „Das will ich meinen!“ erwiderte er. „Wir sind auch bannig stolz auf ihr!“

„Wir? Was heißt ‚wir‘?“

„Mein Herr Lieutenant und ich,“ erwiderte Frettwurst selbstbewußt.

„Wer ist Ihr Herr Lieutenant?“

„Herr Lieutenant zur See Gebhardt.“

Hilde durchzuckte es bei dem Anfangsbuchstaben des Namens. „Was machen Sie da?“ fragte sie ablenkend, auf die räthselhafte Arbeit in Frettwursts Händen deutend.

„Ich sticke eine Decke für die Kajüte. Sie wird fein, nich?“ Damit breitete er das Kunstwerk vor ihr aus; es stellte eine über blaues Meer segelnde Brigg dar und war ganz aus zusammengestoppelten Wollresten gearbeitet.

Hilde legte kritisch die Hände hinter dem Rücken übereinander. „Allerliebst! Ihr Herr wird sich freuen.“

Frettwurst neigte überzeugt das Haupt.

Einen ängstlichen Blick nach dem Ufer werfend und dann unter halbgeschlossenen Wimpern kühl auf den Matrosen schauend, fuhr die junge Dame fort: „Also Gebhardt heißt Ihr Herr Lieutenant. Ich glaube, ich habe ihn schon gesehen. Wie lautet denn nur gleich sein Vorname? Fängt er nicht mit einem ‚H‘ an?“

„Gewiß, mit ’n ‚H‘; Herbert heißt er. Einen besseren Herrn giebt’s in die ganze Marine nich. Sie mögen ihn alle leiden!“

Hilde zuckte die Achseln. „Waren Sie gestern abend auch hier?“ fragte sie nach einer kleinen Pause weiter.

„Natürlich waren wir hier.“

„So? Dann ist Ihrem Herrn vielleicht hier herum eine goldene Nadel abhanden gekommen?“

Seine Arbeit fortwerfend, sprang der Bursche auf die Füße. „Jawoll! Oben bei die große Buche! Haben Sie ihr da gefunden?“

„Vielleicht, vielleicht auch nicht. Sie ist also wirklich verloren gegangen?“

„Na, sonst hätten wir doch nich so lang nach ihr rum gesucht! – O ja, Sie haben ihr! War sie doch bei die Buche? Geben Sie ihr man gleich her! Da wird sich mein Lieutenant aber höllisch über freuen!“

„Nur langsam! Ich habe noch gar nichts gesagt!“ wehrte Hilde ab. „Ehe die Nadel überhaupt gezeigt wird, müssen Sie mir fest versprechen, Ihrem Herrn Lieutenant zu verschweigen, wie und durch wen sie zurückgelangt ist. Wollen Sie das?“

Frettwurst machte ein bedenkliches Gesicht. „Wenn er mir nu aber fragt?“ meinte er.

„Was Sie dann erwidern wollen, ist Ihre Sache! Wenn Sie mir aber das Versprechen nicht geben, so bekommt Ihr Herr die Nadel nicht zurück, darauf können Sie sich verlassen!“

Der große Bursche schaute hilflos in die Richtung des Dorfes. Anfassen und festhalten? Aber das durfte er doch wohl nicht mit ’ner Dame!

„Na,“ entschied er sich nach schwerem Besinnen, „dann will ich es man lieber versprechen.“

„Also auf Ihr Wort?“

„Auf Wort, Fräulein!“

„Schön!“ entgegnete das junge Mädchen erleichtert, „hier ist die Nadel!“

Frettwursts ehrliche Augen leuchteten, als er das Kleinod in Empfang nahm. Hilde sah ihn durchbohrend an und legte den Finger auf den Mund. „Wer sein Wort bricht, hat seine Ehre verloren!“ Damit wendete sie sich um und schritt mit demselben feierlichen Ernst, mit dem sie vor Frettwurst aufgetaucht war, die Anhöhe hinauf. Sobald sie jedoch durch die Büsche den Augen des Matrosen verborgen war, begann sie zu rennen, als ob der Feind ihr auf den Fersen wäre.

Frettwurst aber widmete sich mit getheilten Gefühlen wieder seiner Wollstickerei; ihm war zu Muth, als habe er dem Teufel für irdisches Glück sein unsterbliches verkauft. –

Freudig bewegt über den gelungenen Anschlag, stürmte Hilde ins Dorf und in den elterlichen Garten hinein; wie ein Wirbelwind fuhr sie um die Hausecke herum und – starr wurzelte ihr Fuß am Boden!

Dort vor ihr – sie traute ihren Augen nicht – dort saß der Frevler selbst! Und Vater und Mutter saßen friedlich neben dem gräßlichen Menschen, den sie trotz seiner Civilkleidung auf der Stelle erkannt hatte. Keines Wortes mächtig, stand sie mit gesenkten Augen da.

Herbert, der sich erkannt sah, fühlte, wie ihm das Herz zum Zerspringen klopfte. Aber nachdem der erste Schreck verflogen war, hing sein Auge wie gebannt an der liebreizenden Erscheinung. Und auf diesen Lippen hatten gestern die seinen geruht!

Die ahnungslosen Eltern hielten die Befangenheit ihres Lieblings für die Wirkung der Verlegenheit, sich so als tollenden Unband vor einem wildfremden jungen Mann eingeführt zu haben.

„Meine Tochter Hilde“, sagte der Lehrer mit behaglicher Handbewegung, um der Verwirrung seines Kindes zu Hilfe zu kommen. Und die Mutter bemerkte entschuldigend zu dem Gaste, der rasch aufgesprungen war: „Sie ist noch so jung und Fremden gegenüber so leicht verlegen, obgleich sie mehrere Jahre in der Stadt erzogen wurde.“

Fassunglos, noch immer mit niedergeschlagenem Blick, trat Hilde ein paar Schritte näher zum Tische. Da indessen Herbert seinen Platz nicht wieder einnahm, solange sie stand, so war sie genöthigt, sich ebenfalls am Tisch niederzulassen.

„Du siehst bleich aus, Hilde – bist Du nicht wohl?“ fragte nun die besorgte Mutter, welcher jetzt doch das veränderte Benehmen ihrer Tochter auffiel.

„Nichts von Bedeutung, Mama! Kopfweh –“

Herbert spürte einen Stich in der Brust. „O, das thut mir sehr leid!“ fiel er herzlich ein. „Hoffentlich wird es bald vorübergehen!“

Hilde neigte den Kopf noch tiefer. „Es ist schon wieder vorbei,“ erwiderte sie mit verschleierter Stimme.

Jetzt begann der Lehrer das so plötzlich unterbrochene

Gespräch über Tiefseemessungen wieder aufzunehmen. Allein die

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 32. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_032.jpg&oldid=- (Version vom 11.5.2020)