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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

dunkle traurige Grün dieser ewigen Tannenwälder, dazu Nebel und Wolken und zur Abwechslung ein eisiger Regenguß – hu, mich friert in Eurem kalten grauen Deutschland!“

Sie kauerte sich mit einer reizenden Bewegung fröstelnd in ihrem Sessel zusammen und wandte sich dem Feuer zu.

„In Eurem Deutschland?“ wiederholte Erich mit zärtlichem Vorwurf. „Aber Cäcilie, es ist ja auch Dein Vaterland!“

„Mein Gott ja, allein ich muß mich immer erst wieder darauf besinnen, daß ich wirklich ein Kind dieses häßlichen Nordens bin, der mir ganz fremd ist. Ich war kaum acht Jahre alt, da starb mein Vater, und zwei Jahre später verlor ich auch die Mutter. Da kam ich dann zuerst nach Oesterreich zu Verwandten und später nach Lausanne in die Pension. Als ich erwachsen war, holte mich Oskar ab, und seitdem haben wir meist im Süden gelebt. In Rom und Neapel, an der Riviera und in Florenz, auch in der Schweiz sind wir einigemal gewesen. Aber Deutschland haben wir nie wieder berührt.“

„Du arme Cäcilie, da hast Du ja gar keine Heimath gehabt!“ rief Maja mitleidig.

Cäcilie sah sie sehr verwundert an; ihr erschien ein solches Leben mit dem fortwährenden Wechsel der Umgebung und der Menschen als das einzig Begehrenswerthe. Heimath? Das war ihr ein ganz fremder Begriff. Ihre Augen glitten durch den Salon – ja freilich, das war etwas anderes als die glänzenden und doch so nüchternen Hotelräume, in denen sie seit Jahren gelebt hatte. Diese schweren dunklen Tapeten und Vorhänge, diese Eichenmöbel, von denen jedes einzelne einen künstlerischen Werth hatte, die Familienbilder an den Wänden und vor allem der Hauch von Behaglichkeit, der das Ganze durchwehte! Aber dennoch erschien das alles wieder im Lichte dieses grauen Regentages so ernst und düster, so ernst wie all die Menschen hier, mit alleiniger Ausnahme Majas – und das verwöhnte Kind der großen Welt empfand einen geheimen Schauder vor der „Heimath“ ihres Bräutigams.

„Lebt Ihr denn wirklich den größten Theil des Jahres hier in Odensberg?“ fragte sie. „Das muß doch sehr einförmig sein. Ihr habt einen so prachtvollen Wohnsitz in Berlin, wie Erich mir erzählt hat, und seid kaum zwei Monate im Winter dort, das begreife ich nicht!“

„Papa meint, er habe keine Zeit, in der Welt umherzureisen,“ sagte Maja unbefangen „und ich bin mit der Tante und Fräulein Leonie nur einigemal im Bade gewesen. Ich bin sehr gern in Odensberg.“

„Maja ist ja überhaupt noch nicht in die Gesellschaft eingeführt,“ erklärte Erich. „Das soll erst im nächsten Winter geschehen, wenn sie ihr siebzehntes Jahr vollendet hat. Bis jetzt hat unsere Kleine immer noch in der Kinderstube bleiben müssen, wenn bei uns großer Empfang war, und da kennt sie die große Welt noch gar nicht.“

„Ich wurde schon mit sechzehn Jahren in die Welt eingeführt,“ warf Cäcilie hin. „Arme Maja, läßt man Dich so lange darauf warten – das ist unverantwortlich!“

Das junge Mädchen lachte hell auf bei diesem aufrichtigen Bedauern. „O, ich betrachte das gar nicht als ein so großes Unglück, denn dann muß ich mich ‚benehmen‘, wie Fräulein Friedberg es nennt, muß so schrecklich ernsthaft und verständig thun und darf nicht mehr mit ‚Puck‘ herumtanzen. – Puck, ich glaube gar, Du schläfst am hellen Tage! Schämst Du Dich nicht? Wirft Du gleich aufwachen!“

Damit stürzte sie nach einer Ecke des Salons, wo Puck, grollend, daß man sich heute so wenig um ihn kümmerte, auf einem Fußkissen sich dem süßesten Schlummer hingab. Cäcilie verzog spöttisch die Lippen.

„Maja ist wirklich noch ein rechtes Kind,“ sagte sie leise zu Erich. „Nun, Oskar, hat Dich der Regen hereingetrieben?“

„Jawohl,“ antwortete Wildenrod, der soeben herantrat. „Wir haben Odensberg besichtigt, vorläufig nur von der Terrasse aus, aber Dein Vater hat mir versprochen, Erich, mich schon in den nächsten Tagen in sein Reich einzuführen.“

„Gewiß, und Cäcilie muß es auch kennenlernen,“ stimmte Erich bei. „Dann fahren wir auch einmal nach Radefeld hinaus, wo jetzt der Buchberg durchbrochen wird. Egbert,“ wandte er sich an diesen, der stumm zugehört hatte, „wir melden uns einstweilen bei Dir an.“

„Ich fürchte nur, daß unsere Arbeiten Herrn von Wildenrod nicht interessieren werden,“ versetzte Egbert, „sie bieten nach außen hin nicht viel Bemerkenswerthes, und bis zum Durchbruch sind wir überhaupt noch nicht gekommen.“

Wildenrod wandte sich zu dem jungen Ingenieur, der ihm vor Tische vorgestellt worden war. Er wußte durch Erich, daß dieser „Jugendfreund“ eine Ausnahmestellung einnahm, aber seine Anwesenheit bei diesem ersten Zusammensein im engsten Familienkreis befremdete ihn doch, und er wußte diesem Befremden Ausdruck zu geben. Bei aller Höflichkeit, mit der er Runeck behandelte, stand in seinen Augen immer wortlos, aber deutlich die Frage: „Was thust Du eigentlich hier?“

„Sie haben ja wohl den Plan zu diesen Arbeiten entworfen, Herr Runeck?“ fragte er. „Erich erzählte mir bereits davon und ich freue mich sehr, einen so tüchtigen Ingenieur kennenzulernen.“

Die Worte klangen sehr verbindlich, aber der „Ingenieur“ wurde doch betont und damit die Schranke hervorgehoben, die den Sohn des Eisenarbeiters von der Familie des Millionärs trennte, obgleich man sie in Odensberg zu vergessen für gut fand. Egbert verneigte sich ebenso verbindlich, als er erwiderte: „Ich hatte bereits früher das Vergnügen, Sie kennenzulernen, Herr von Wildenrod.

„Mich? Ich erinnere mich nicht, daß wir uns jemals begegnet wären.“

„Das ist begreiflich, denn es geschah in einem größeren Kreise. Vor drei Jahren in Berlin, bei Frau von Sarewski.“

Der Freiherr wurde aufmerksam, sein Auge heftete sich scharf und forschend auf den jungen Ingenieur, aber zugleich spielte ein spöttisches Lächeln um seine Lippen. „Und da haben Sie mich gesehen? Ich glaubte wirklich nicht, daß Sie in solchen Kreisen verkehren.“

„Das thue ich in der That nicht. Es war ein besonderer Fall, der mich dahin führte, und ich war auch nicht als Gast dort. Vielleicht erinnern Sie sich der Sache, wenn ich Ihnen den Tag nenne – es war der zwanzigste September.“

Die Hand Wildenrods, welche auf der Lehne von Cäciliens Sessel lag, zuckte leise, und zugleich schoß ein Blitz aus seinen Augen, ein Blick des Argwohns, der Drohung; aber er glitt ab an den völlig unbewegten Zügen Runecks. Das dauerte freilich nur eine Sekunde, dann sagte der Freiherr nachlässig:

„Da muthen Sie wirklich meinem Gedächtniß zuviel zu. Ich habe in den letzten zehn Jahren so viel Orte und Menschen kennengelernt, daß ich mich der einzelnen nicht mehr entsinne. Welchen Vorfall meinen Sie?“ Er sprach mit voller Gelassenheit, in seinen Zügen war nicht die leiseste Veränderung zu bemerken.

„Wenn Sie es vergessen haben, Herr von Wildenrod, so lohnt es wohl kaum, davon zu reden,“ sagte Egbert kühl. „Mir waren von jenem Abend her nur Ihre Züge und Ihre Persönlichkeit im Gedächtniß geblieben.“

„Sehr schmeichelhaft für mich!“ Wildenrod neigte mit einer hochmüthigen Bewegung das Haupt gegen den jungen Ingenieur und kehrte ihm dann den Rücken. Er schritt nach dem anderen Ende des Salons, wo Maja das weiße Fellchen ihres Lieblings zauste, der den jähen Eingriff in seine Siesta sehr ungnädig aufgenommen hatte.

Das Spiel nahm ein Ende, als der Freiherr sich näherte, und Maja richtete sich mit einer gewissen Kampfbereitschaft empor, denn sie fühlte das dringende Bedürfniß, ihre kindische Befangenheit von vorhin in Vergessenheit zu bringen. Bei Tische war keine Gelegenheit dazu gewesen, denn Frau von Ringstedt hatte den neuen Verwandten, der neben ihr saß, vollständig in Beschlag genommen; jetzt aber sollte er sehen, daß man sich nicht im mindesten vor ihm scheute, daß man durchaus entschlossen war, ihm die Spitze zu bieten.

Leider trug Oskar Wildenrod dieser kriegerischen Stimmung gar keine Rechnung, er begann in aller Harmlosigkeit erst das Hündchen und dann dessen Herrin zu necken und nahm ganz unbefangen an ihrer Seite Platz. Nun fing er an zu plaudern, von allem Möglichen, in einer halb scherzhaften, aber ungemein fesselnden Art, die dem jungen Mädchen ganz neu war; die Vertraulichkeit, zu der die künftige Verwandtschaft ihn berechtigte, wurde dabei in natürlicher zarter Weise zur Geltung gebracht

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 70. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_070.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)