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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Ein Verbrecher aus Bücherwuth.

Von Eduard Schulte.


Im Jahre 1812, am 28. Januar wurden die Bewohner von Leipzig durch die Kunde von einem Mordanfall erschreckt, der dort am hellen Tage mit Erfolg ausgeführt worden war.

Zu dem in der Grimmaischen Gasse wohnhaften Kaufmann Schmidt, einem als wohlhabend bekannten alten Manne, trat an jenem Tage bald nach 10 Uhr morgens ein Fremder ins Zimmer, ein Mann etwa in den vierziger Jahren, der seinem Stande nach ein Gelehrter zu sein schien. Seinen Namen nannte er nicht. Er sagte, er komme aus Hamburg und wolle sich bei Schmidt, der ihm empfohlen sei, wegen der vortheilhaftesten Anlage eines Kapitals Raths erholen. Schmidt empfahl den Ankauf von Leipziger Stadtobligationen, und als der Fremde ein Papier dieser Art zu sehen wünschte, zeigte er ihm eins, worauf er es wieder in den Schreibtisch, aus dem er es genommen, zurücklegte. Wohl eine halbe Stunde wurde von geschäftlichen Dingen hin und her gesprochen. Plötzlich sank Schmidt bewußtlos nieder. Als er wieder zu sich kam, bemerkte er, daß sein Kopf stark blutete. Er glaubte nicht anders, als daß er von einer Ohnmacht befallen worden sei und sich im Hinsinken verletzt habe. „So helfen Sie mir doch auf!“ rief er, in der Meinung, daß der Fremde noch anwesend sei. Aber dieser war verschwunden. Schmidt erhob sich nun allein. Da sah er, daß mehrere von den Kästchen, die er im Schreibtisch verwahrt hatte und die einen Theil seiner Werthpapiere enthielten, leer umherstanden – elf Stadtobligationen im Gesammtwerth von 3000 Thalern fehlten. Er ließ sich nun den Kopf von seiner Haushälterin schnell verbinden und eilte dann auf das Rathhaus, um den Vorfall anzuzeigen und zugleich die Nummern der ihm abhanden gekommenen Obligationen bekannt zu geben. Ferner erließ er ein vor dem Ankauf warnendes Rundschreiben an sämmtliche Banken in Leipzig.

Die Maßregeln, welche Schmidt ergriffen hatte, um den Ankauf seiner Papiere zu hindern und gegebenen Falls die Verhaftung des Verkäufers herbeizuführen, kamen trotz der Eile, mit der er vorgegangen war, zu spät. Noch an demselben Morgen waren die ihm geraubten Obligationen im Fregeschen Bankgeschäft verkauft worden. Nach Aussage des Fregeschen Geschäftspersonals kam noch vor 11 Uhr und vor dem Bekanntwerden des Raubes ein Fremder in das Comptoir, erkundigte sich nach den Kursverhältnissen einiger Papiere und veräußerte für 3000 Thaler Stadtobligationen. Er nannte sich Siegel und gab an, in Elsterberg wohnhaft zu sein. Er war von mittlerer Größe, bartlos und von blasser Gesichtsfarbe, hatte eine ziemlich große Nase und trug langes schlichtes schwarzes Haar. Man schätzte sein Alter auf etwa vierzig Jahre. Seine Weste und seine Beinkleider waren schwarz; über einem schwarzen Frack trug er einen pekeschenartigen Ueberzieher. Seine Kopfbedeckung war ein vorn eingebogener sogenannter Schifferhut. Das Personal gab an, der Fremde habe das Aussehen eines modern gekleideten Geistlichen gehabt; man meinte ihm also den geistlichen Stand anzusehen, obwohl er die unter den Predigern jener Zeit noch sehr verbreitete Sondertracht dieses Standes, zu der ein langer Priesterrock, Kniehosen, Schnallenschuhe, gepudertes Haar und ein flacher Hut gehörten, nicht trug. Er blieb wohl eine halbe Stunde im Comptoir, schob zehn halbe Louisd’or, die sich unter der fast ganz aus Gold bestehenden Kaufsumme befanden, zurück, damit man sie gegen ganze Louisd’or umtausche, und kam, nachdem er sich verabschiedet, noch einmal wieder, um sich über den Verkauf der Papiere eine Bescheinigung geben zu lassen, die doch für ihn kaum Werth haben konnte.

Als der Raub bekannt wurde, bezeichnete der Kassierer des Fregeschen Geschäftes einen ihm mit Namen bekannten Einwohner von Leipzig als den Verkäufer der Obligationen. Aber die Angaben des übrigen Personals, des Kaufmanns Schmidt selbst und seiner Haushälterin, die den Fremden in Schmidts Zimmer geführt hatte, stellten außer Zweifel, daß der ihnen vorgeführte Beschuldigte nicht der Verkäufer und nicht der Thäter war und daß der Kassierer sich geirrt hatte.

Die Verwundung des Kaufmanns Schmidt war viel schwerer, als man bei seinem Verhalten in den ersten Stunden nach dem Verschwinden des Fremden annehmen durfte. Hatte er doch nicht nur den Behörden den Diebstahl persönlich anzeigen, sondern sich auch einer richterlichen Vernehmung unterziehen und seine Angaben eidlich erhärten können! Aber Verwundungen des Schädels und des Gehirnes lassen die durch sie verursachten Störungen der leiblichen und seelischen Verrichtungen öfter erst dann hervortreten, wenn eine gewisse Zeit vergangen ist. Schmidt wurde mehrere Stunden nach seiner Verwundung bewußtlos, und man konnte ihn nach Einzelheiten, die man in der ersten Vernehmung vergessen hatte, nicht mehr fragen. Ohne wieder zu sich gekommen zu sein, starb er am 6. April.

Die gerichtsärztliche Untersuchung der Leiche ergab, daß der Schädel an zwei Stellen Brüche hatte, welche den Tod herbeiführen mußten, daß ein Aufschlagen des Kopfes beim Niederfallen so schwere und an so verschiedenen Stellen liegende Verletzungen nicht verursacht haben konnte, daß diese also von fremder Hand mittels eines zum Schlagen geeigneten Werkzeuges und mit beträchtlicher Gewalt beigebracht worden sein mußten.

Der Kaufmann Schmidt soll außergerichtlich auch die Aeußerung gethan haben, daß der Fremde, der ihn verwundete und beraubte, ihm kurz vorher eine Prise angeboten habe, nach deren Genuß er besinnungslos geworden sei. Ein Vorgang dieser Art ist nach Lage der Sache nicht unwahrscheinlich. Wäre der Kaufmann Schmidt erst durch den Schlag betäubt worden, so hätte er vermuthlich doch noch die Empfindung gehabt, einen Schlag erhalten zu haben, und dann hätte er nicht den, der ihn geschlagen, noch um Beistand zum Aufstehen gebeten, wie er es thatsächlich in ungebrochener Erinnerung an das vorher geführte anscheinend freundschaftliche Gespräch gethan hat.

Die Nachforschungen nach dem Raubmörder, welche Gericht und Polizei anstellten, blieben völlig erfolglos. – –

Ein Jahr war vergangen, da wurde die Stadt wiederum durch eine Mordthat in Schrecken gesetzt, die mit der früheren einige Aehnlichkeit hatte.

Am Neumarkt wohnte im Hause eines Dr. Kunitz vier Treppen hoch eine Witwe Kunhardt. Sie stand in den siebziger Jahren und hatte niemand um sich als ihre Dienstmagd. Am 8. Februar des Jahres 1813, einem Montage, schickte sie diese Magd bald nach 8 Uhr morgens zu einer Besorgung aus dem Hause. Als die Magd von diesem Gange gegen 1/29 Uhr zurückkehrte, hörte sie auf der Treppe, daß ihre Herrin in ängstlicher Weise ihren Namen rief. Oben angekommen, sah sie, daß Frau Kunhardt mit blutendem Kopfe in ihrem Vorzimmer stand und sich an die Thüre lehnte; auf einen vor ihren Füßen liegenden, mit frischem Blute befleckten Brief weisend, sagte sie zu der Magd, ein fremder Mensch, der ihr den Brief gebracht, habe sie geschlagen. Auf das Geschrei der Magd eilten andere Bewohner des Hauses herbei und brachten die Verwundete in ihr Zimmer, Sie erklärte auf Befragen, daß sie den Fremden nicht kenne.

Der vom 24. Januar 1813 aus Hohendorf datierte und mit „Bruse“ unterzeichnete Brief enthielt das Gesuch um ein Darlehen von 1000 Thalern.

War es auf einen Raub abgesehen gewesen, was man unter den obwaltenden Umständen für wahrscheinlich halten mußte, so war diese Absicht nicht erreicht worden. Wir erfahren wenigstens nicht, daß Frau Kunhardt, über deren Vermögensverhältnisse übrigens nichts mitgetheilt wird, Geld und Geldeswert vermißt hätte.

Nachdem die Behörden von dem Geschehenen benachrichtigt worden waren, erschien noch an demselben Vormittag das Gericht in der Wohnung der Frau Kunhardt. Wiederum zeigte sich, daß die Verletzung des Kopfes ernster war, als es zunächst geschienen hatte. Frau Kunhardt war bereits bewußtlos und blieb es bis zu ihrem Tode, der in der Nacht zum 10. Februar eintrat.

Das ärztliche Gutachten lautete dahin, daß der Schädel der Verstorbenen von fremder Hand mit einem scharfen, abgerundeten und schlagenden Werkzeug, etwa mit der abgeschrägten Seite, welche die meisten Hämmer gegenüber der stumpfen Seite zu haben pflegen, zertrümmert worden sei, und daß die Verwundung nothwendig zum Tode habe führen müssen.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 76. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_076.jpg&oldid=- (Version vom 1.7.2023)