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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


vorgenommenen Verhören, die zu umfangreichen Schreibereien Anlaß gaben und zwischen denen jedesmal viel Zeit verstrich. Ein Augenzeuge des an der Frau Kunhardt verübten Mordes war nicht vorhanden, der angeschuldigte Magister Tinius leugnete seine Thäterschaft mit Hartnäckigkeit und theilweise mit Geschick, und der Indizienbeweis, den man nun herzustellen suchte, war nur sehr mühsam zu führen. So hat es geschehen können, daß, wie wir hier vorweg nehmen, von der Verhaftung bis zu der entscheidenden Verurtheilung in der zweiten Instanz 10 Jahre vergingen: sie erfolgte erst im Jahre 1823.

Unzweifelhaft war die Verurtheilung des Magisters wegen des Kunhardtschen Mordes ebenso sorgsam erwogen, als sie gerecht war. Gleichwohl ist, zum Theil jedenfalls, weil eben die Verhandlungen auf die Gerichte eines anderen Staates übergingen, mancher Punkt unaufgeklärt geblieben, welchen aufzuklären die heutige Rechtspflege wohl ein Mittel finden würde. So ist z. B. das Vorleben des Magisters Tinius, namentlich im Hinblick auf die Frage, wie und wann er eigentlich zum Verbrecher wurde, nur lückenhaft und nicht in dem Maße aufgehellt worden, wie dies damals doch möglich gewesen sein muß.

Johann Georg Tinius wurde im Jahre 1764 in der Niederlausitz auf einer preußischen Domäne geboren, wo sein Vater Schäfer war. Im Religionsunterricht fiel er dem Prediger durch seine Begabung auf, und dieser verschaffte dem mittellosen Knaben die Möglichkeit, Gymnasium und Universität in Wittenberg, wenn auch unter manchen Entbehrungen, zu besuchen. Tinius war nach Beendigung seiner Studien erst Hauslehrer, erhielt dann eine Lehrerstelle am Gymnasium in Schleusingen, wurde im Jahre 1798 Pfarrer zu Heinrichs in Thüringen und 1809 Pfarrer in Poserna. Die ihm von der Schule und Universität ausgestellten Zeugnisse rühmten die Reinheit seiner Sitten und die Unbescholtenheit seines Wandels, und sein Wirken als Lehrer und Prediger wurde von seinen Vorgesetzten aufs anerkennendste beurtheilt. Sein in Weißenfels wohnhafter Superintendent bezeugte nach der Verhaftung, er habe es nie für möglich gehalten, daß Tinius das Verbrechen habe begehen können, dessen man ihn beschuldige; freilich sei der erste Eindruck, den er von Tinius empfangen, der eines „Adepten“ gewesen, also eines Menschen, der sich mit geheimen Künsten abgebe. Andere wollten eine unheimliche Miene, einen stechenden Blick an ihm wahrgenommen haben; doch kamen diese weniger günstigem Urtheile erst nach der Verhaftung zu Tage. Persönlichen Verkehr hatte Tinius fast nur mit einigen Bekannten gehabt, die in Leipzig wohnten; den Umgang mit seinen geistlichen Standesgenossen hatte er gemieden.

Tinius war zweimal verheirathet und hatte aus den beiden Ehen vier Kinder. Nach Eröffnung des Prozesses ließ die zweite Frau, mit der er nicht glücklich gelebt zu haben scheint, sich von ihm scheiden, und fast gleichzeitig wurde der Konkurs über sein Vermögen eröffnet. Tinius hatte eine große Liebhaberei für Bücher, und nach einer Aeußerung des Superintendenten Rosenmüller in jener Rede bei der Amtsentsetzung ist diese Liebhaberei der Grund dafür gewesen, daß Tinins sich zu Ausgaben hinreißen ließ, welche seine Einnahmen überstiegen und ihn endlich auf die Bahn des Verbrechens drängten. Er hatte eine Bibliothek von 30000, nach anderer Angabe von 80000 Bänden zusammengebracht. Sollte auch nur jene kleinere Zahl die richtige sein, so wäre sie für einen Landpfarrer doch immer noch eine fast ungeheuerliche. Mit Buchhändlern und Antiquaren in der Nähe und Ferne stand er in regem Verkehr. Allerdings behauptete er, daß die Zinsen des ihm von seinen beiden Frauen zugebrachten Vermögens, die reichen Einkünfte der Pfarre zu Poserna und sein sparsames Leben ihm seine Bücherankäufe ermöglicht hätten, aber die Untersuchung seines Vermögensstandes aus Anlaß des Konkurses widerlegte diese Behauptung, Einige kleine Kapitalien hatte er ausstehen, aber größere war er schuldig. Seine zweite Frau konnte von den 10000 Thalern, die sie ihm eingebracht hatte, nur einen kleinen Rest wiederbekommen, und ferner ergab es sich, daß er sich an den Kirchengeldern, welche ihm anvertraut waren, vergriffen hatte. Er wurde auch wegen dieser Unterschlagung zu zwei Jahren Zuchthaus verurtheilt. Bei eineln Magister St. in Leipzig, einem Duzfreund von ihm, wurden mehrere von ihm herrührende Briefe aufgefunden, worin er Geldverlegenheiten eingestand und um Hilfe bat. Am 9. Februar 1813, also am Tage nach dem Kunhardtschen Morde, der ihm keinen Raub eingebracht haben konnte, schrieb er an St.: „Schaffe Rath, laß mich nicht ins Unglück stürzen.“

Dieser Magister St. stand überhaupt bei dem Leipziger Gerichte in dem dringenden Verdacht, über die Heimlichkeiten seines Amtsbruders näher unterrichtet zu sein. Man hatte sich auch vorbehalten, ein Verfahren gegen ihn einzuleiten, wenn der Magister Tinius abgeurtheilt sein würde. Aber diese Absicht ist, nachdem Tinius den preußischen Gerichten übergeben worden war, offenbar nicht zur Ausführung gekommen.

Das Verhalten des Magisters Tinius dem Gericht gegenüber zeigt, wie dies übrigens bei Verbrechern häufig der Fall zu sein pflegt, einige Unbegreiflichkeiten. Am 17. Februar 1813, 9 Tage nach dem Morde, meldete ihm sein Freund St. in einem später zu Poserna aufgefundenen Briefe von dem Verdachte, den man in Leipzig gegen Tinius hegte. Dieser hätte also Gelegenheit gehabt, Dinge zu beseitigen, in deren Besitz betroffen zu werden für in mißlich war. Aber weder der Brief noch der oben erwähnte Besuch der Kunhardtschen Dienstmagd, der 8 Tage nach Eintreffen des Briefes stattfand und ihn wohl hätte stutzig machen können, veranlaßten ihn zu Vorsichtsmaßregeln. Das Einzige, was er zu seiner Sicherung that, war, daß er vom Schlitz des blauen Reitmantels die 10 Knöpfe abtrennte, die allerdings ein auffälliges Merkmal bildeten, deren Fortnahme aber die Wiedererkennung des Mantels durch die Zeugen auch nicht hindern konnte. Das Gericht fand diesen Mantel und sogar die 10 abgetrennten Knöpfe noch im Pfarrhause vor.

Das Gericht fand daselbst ferner zwei Hämmer; einer von diesen war am Stiel so gekürzt, daß er bequem in die innere Brusttasche des Mantels gesteckt werden konnte, und die abgeschrägte Seite des Eisens paßte, wie später festgestellt wurde, in die Verletzungen, welche der Schädel der Frau Kunhardt aufwies. Beim Scheidungsprozeß der Tinius’schen Eheleute kam außerdem folgendes zur Sprache: etwa 8 Wochen vor dem Morde ließ Tinius, der eben von einer Reise nach Leipzig zurückgekehrt war, den Mantel, nachdem er ihn ausgezogen hatte, zufällig im Hausflur auf dem Treppengeländer liegen, während er ihn für gewöhnlich selbst an einem bestimmten Nagel in seinem Zimmer aufzuhängen pflegte. Frau Tinius fand den Mantel und brachte ihn an seinen Platz. Dabei entdeckte sie, daß in der Brusttasche ein Hammer steckte. Als sie bald darauf zu häuslichem Gebrauch einen Hammer haben wollte, holte sie den anderen Hammer, den man im Hause hatte und der in der Bibliothek lag; sie äußerte dabei zu ihrem Manne, er könne ihr diesen Hammer lassen, denn er habe ja noch einen anderen in der Tasche des Mantels. Diese Aeußerung hätte den Magister unmöglich aufbringen können, wenn der Hammer in der Tasche nur zu harmlosen Zwecken gedient hätte. So aber wurde er sehr ärgerlich, schalt seine Frau, daß sie alles ausspioniere, und drohte, sie zu schlagen.

(Schluß folgt.)




Auf Geben und Nehmen.

Novelle von Johannes Wilda.
(4. Fortsetzung.)


Für die „Bachstelze“ ging die Fahrt auf Leben und Tod.

Der Himmel war schwarz überzogen; unter ihm nichts als eine einzige heulende Fläche, auf der die sich aufbäumenden Wogen wie Tausende von geifernden Ungeheuern wüthend übereinanderstürzten.

Und das junge Mädchen kauerte in dem steil auf der Seite liegenden Boot, das Haupt des Geliebten im Schoß haltend, mit zitternden Händen bemüht, sein rieselndes Blut zu stillen. Sie beachtete es nicht, daß unaufhörlich die Wellen über Bord sprühten, daß ihre und Herberts Füße bald von dem umherrollenden Salzwasser bedeckt waren.

„Herbert, Geliebter, wach auf! O mein Gott, laß ihn nicht tot sein! Herbert, Herbert, komm’ zu Dir!“ So flehte und stöhnte sie, aus der Fülle irdischen Glückes hineingeschleudert in das Grauen des Todes, dessen eisigen Athem sie spürte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 78. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_078.jpg&oldid=- (Version vom 1.6.2020)