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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Herbert, sprich nicht so!“ schrie das Mädchen auf. „Ich habe gefehlt wie Du! Ich bin freiwillig gekommen und gehe ohne Deine Schuld zu Grunde!“

Stumm preßte er ihre Hand. „Nein, nein, Hilde, ich allein bin der Schuldige! Aber alle Hoffnung gebe ich noch nicht auf. Ich will jetzt das Aeußerste dransetzen, damit wir freikommen. Hilft auch das nicht mehr, so wollen wir wenigstens versuchen, uns durch die Brandung auf den Strand werfen zu lassen. Vielleicht haben wir dann noch Aussicht, uns durch Schwimmen zu retten. – Nimm die Korkboje zu Dir!“

Sturm und Strömung standen gerade in die Bucht hinein, in die man gerathen war. An das Gelingen einer Wendung durch den Wind war nicht mehr zu denken. Es blieb nur noch übrig, von einer anderen Seite an den Wind zu kommen, zu „halsen“, und dabei die Zurüstung zum letzten Kampf zu treffen. Das bißchen Seeraum, das noch verfügbar war, mußte zu diesem Zweck geopfert werden.

Herbert halste also und benutzte die kurze Zeit der ruhigen Fahrt, um sämmtliche Verkürzungen aus dem Großsegel herauszubringen und dessen volle Segelfläche tollkühn zu entfalten.

Mit beängstigender Geschwindigkeit hatte sich die „Bachstelze“ in dieser geringen Zeit der Küste genähert; deutlich erkannte man das Wüthen der weißen Brandung erst auf den äußeren, dann auf den inneren Bänken, und schon glaubte man ihr Toben durch den Sturm hindurch zu vernehmen. Und jetzt ging das Boot unter dem verwegenen Segeldruck abermals an den Wind. Alle seine früheren Kämpfe schienen gegen diesen ein Kinderspiel zu sein. Von der ungeheueren Pressung niedergestampft, wühlte es sich mit dem ganzen Vordeck in die See. Hoch über die Mastspitze schlugen die Wellenberge hinaus, um dann mit Riesenwucht über die beiden Menschenkinder wegzurollen, als ob das Fahrzeug sich nicht mehr im freien Wasser, sondern schon mitten drin in der Brandung befinde.

Jeden Augenblick konnte alles brechen, konnten Mast und Menschen über Bord gehen, jede Sekunde schien die „Bachstelze“ sich mühseliger aus der Umklammerung der Wasserkolosse emporzuarbeiten, jede Sekunde lag sie zum Kentern.

Mit eisiger Entschlossenheit, die Zähne zusammengebissen, daß die Muskeln wie Erz in dem bleichen Gesicht hervortraten, stützte Herbert, ohne einen Zoll zu weichen, mit der Kraft der Verzweiflung das Ruder. Hilde hatte er an sich festgebunden. Halb von Sinnen hing sie bis zum Hals im Wasser, krampfhaft sich an Herbert und die Boje ankrallend.

Herbert war jetzt nur Seemann, Seemann bis in die letzte Faser seines Wesens. Wie lange dieses Ringen Brust an Brust mit den Mächten der dunklen Tiefe währte, wußte er nicht, aber aus seinem Auge, das in düsterer Kampfesfreude leuchtete, schoß endlich ein Strahl des Triumphes. Die Entfernung von der Küste vergrößerte sich!

Und nun brach die Sonne strichweise aus den Wolken. Röthlich fiel ihr Glanz auf das weißfunkelnde tobende Wogenfeld, auf das schaumbegrabene, immer und immer wieder um sein Dasein ringende Fahrzeug, auf den entschlossenen Helden am Steuer und das ohnmächtige, bleiche Mädchen zu seinen Füßen.

*      *      *

Das war eine schlimme Nacht für das Schulhaus gewesen!

Herr und Frau Jaspersen waren gegen zwölf Uhr heimgekehrt, ungeachtet des Unwetters in bester Stimmung; wiederholt hatten sie bei ihrer Wagenfahrt mitleidigen Herzens den Wunsch ausgesprochen, daß ein gütiges Geschick die Schiffer, die in dieser Nacht auf offenem Meer dem Sturme trotzen mußten, gnädig schützen möge. Als ihnen aber zu Hause Trina als leibhaftiges Bild des Jammers entgegentrat und sie erfuhren, daß Hilde sich entfernt habe und noch nicht zurück sei, befiel die Eltern eine namenlose Angst.

Weinend gestand das Mädchen, was sie von der heimlichen Verlobung der beiden wußte. Frau Jaspersen, noch in Hut und Mantel, hatte sich verzweifelnd auf einen Stuhl geworfen. Ihr Gewissen war nicht frei. Größer als die Schuld des schlecht behüteten Kindes erhob sich vor ihrer Seele die eigene. Warum hatte sie Trinas Warnung nicht besser beachtet!

Und der Schulmeister stand aufrecht und bleich mitten im Zimmer und nagte wortlos an seinen Lippen. Daß Hilde sich in Gesellschaft Gebhardts entfernt habe, um eine Wasserpartie zu machen, war nicht zu bezweifeln. Im übrigen liefen seine Vermuthungen wirr durcheinander, sie gipfelten aber alle in den schlimmsten Befürchtungen wegen des wirklichen oder moralischen Schiffbruchs seiner Tochter. Eines erschien so entsetzlich, so undenkbar wie das andere. Schließlich klammerte er sich an den Gedanken, daß die beiden vor dem hereinbrechenden Sturm einen Zufluchtsort hätten aufsuchen müssen. Und doch, selbst wenn dem so war, blieb nicht die trübe unglaubliche Thatsache bestehen, daß sich Hilde heimlich mit dem Offizier entfernt hatte? Was sollte aus ihrer Zukunft werden, auch wenn ihr Leben gerettet wäre! Wenn Gebhardt wirklich daran gedacht, das Mädchen zu heirathen, wie Trina aus seinem Munde versicherte, dann hätte er doch vor einer derartigen Bloßstellung seiner künftigen Gattin zurückschrecken müssen!

Niemand konnte sich entschließen, zu Bett zu gehen. Die Lampe brannte die ganze Nacht hindurch, und trotz des Windes blieben Haus- und Stubenthüre auf, als ob die Vermißte jede Minute eintreten und ihr jedes Hinderniß aus dem Weg geräumt werden sollte. Von Zeit zu Zeit lief der Lehrer barhäuptig in die Finsterniß hinaus und lauschte angstvoll in die Nacht. Aber er hörte nur das Heulen des Sturmes.

Nichts war entsetzlicher als die Unthätigkeit, zu der man verdammt war. Denn was hätte es genutzt, Lärm zu schlagen? Wo sollte man sich erkundigen, ohne die Ehre der Tochter sogleich in schlimmes Licht zu stellen?

Ja, die Nacht war furchtbar, aber endlich, endlich graute der Morgen, und mit seinem Kommen erlahmte der Sturm. Mit dem frühesten Hafendampfer begab sich Herr Jaspersen nach der Stadt und sofort an Bord der „Preußen“, wo er erfuhr, das Lieutenant Gebhardt mit seinem Kutter in See gegangen, aber nicht zurückgekehrt sei. Auf Befehl des Stationschefs sei das Kanonenboot „Falke“ noch in der Nacht zur Hilfeleistung nachgeschickt worden und die Signalstation des Außenforts habe soeben das Insichtkommen des „Falken“ ohne die „Bachstelze“ gemeldet.

Bis ins Innerste erschüttert, kaum imstande, vor der fremden Umgebung seinen Schmerz zu verbergen, vernahm der Schulmeister diese Kunde. Er stieg in ein Segelboot, um dem „Falken“ entgegenzufahren. Welche Nachricht würde er seiner Frau zu bringen haben! Seine Augen mit der Hand bedeckend, stöhnte er tief auf und murmelte: „Mein Kind, mein Kind, warum hast Du mir das gethan!“

*      *      *

Die Sonne hatte den unglücklichen Insassen der „Bachstelze“ Licht, aber nur wenig Hoffnung gebracht. Herberts Kräfte waren erschöpft; die Befreiung aus der entsetzlichen Lage mußte bald erfolgen, sollte sie nicht zu spät kommen.

Da erkannte Herbert plötzlich über dem Horizont etwas Herrliches: eine Rauchwolke. Heiß fluthete die Hoffnung durch seine Brust. „Ach, nur so lange, bis der Retter heran ist, nur so lange halte noch aus, ‚Bachstelze‘, brave, brave ‚Bachstelze‘!“

Schlanke Masten tauchten auf und ein Schornstein. Hurra, das war ein Kriegsschiff! Jeder Blutstropfen drängte dem Manne zum Herzen. Selbst dem Fahrzeug schien der ermattende Löwentrotz neu belebt zu sein; es schüttelte die Wassermassen siegreich ab, es strebte vorwärts, vorwärts.

„Hurra, Hilde, der ‚Falke‘!“ schrie Herbert auf „Der ‚Falke‘, der ‚Falke‘!“

Aufs heftigste erregt war er vom Sitze emporgesprungen. Seine Augen leuchteten vor Entzücken, wild schwenkte er die nasse verdrückte Mütze, an welcher der zerrissene Sturmriemen wehte. Dann rüttelte er das ohnmächtige Mädchen an den Schultern, „Hilde, Süße, Liebe! Wach’ auf! Wir sind gerettet – gerettet!“ Das Mädchen öffnete matt die Lider und starrte ihn sinnverwirrt an. Nichts wurde ihr deutlich als die Unendlichkeit der gurgelnden strudelnden Wasser. Die Augen wieder schließend, murmelte sie: „Sterben!“

„Nein, nicht sterben, leben! So sieh doch nur, ein Schiff, der ‚Falke‘ ist bei uns! Dem Himmel sei Dank, in einer halben Stunde bist Du in warmem Neste!“

Nun begriff Hilde. Ein Freudenschimmer flog über ihr Antlitz; zur lauten Aeußerung ihrer Erregung war sie zu schwach geworden. „O, leben – leben mit Dir!“ flüsterte sie kaum hörbar.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 82. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_082.jpg&oldid=- (Version vom 7.1.2021)