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verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Nr. 6.   1893.
Die Gartenlaube.

Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.

In Wochen-Nummern vierteljährlich 1 Mark 60 Pf. In Halbheften: jährlich 28 Halbhefte à 25 Pf. In Heften: jährlich 14 Hefte à 50 Pf.



Freie Bahn!

Roman von E. Werner.
(5. Fortsetzung.)

Es war völlig Nacht geworden, das Herrenhaus lag still und dunkel da, nur in den einzelnen Schlafzimmern schimmerte noch Licht. Der Wind hatte sich gelegt und in der nächsten Umgebung herrschte tiefe Ruhe. Aber drüben auf den Werken regte sich noch immer das mächtige rastlose Leben, das auch während der Nacht nicht völlig schlief und wenn es bei Tage nur in einzelnen fernen Lauten herüberdrang, so hörte man jetzt deutlich jeden Ton. Bisweilen leuchtete heller Feuerschein auf, hier und da sandte eine der riesigen Essen eine sprühende Funkengarbe zum sternenlosen Himmel empor, und dort, wo die Hochöfen lagen, waren die schwarzen qualmenden Rauchwolken roth angestrahlt von der Gluth der Feuer. Es war ein großes fesselndes Bild.

Das schien auch Oskar Wildenrod zu finden, der am Fenster stand und hinausblickte. Die Bewunderung, die er heute nachmittag dem Herrn von Odensberg ausgesprochen hatte, war nicht erheuchelt gewesen. Seine Brust hob sich unter einem tiefen Athemzug und leise sprach er: „Der Herr und Gebieter einer solchen Welt zu sein, mit einem einzigen Machtworte Tausende zu lenken! - Wie der Mann heute auf der Schwelle seines Hauses stand, als er uns empfing - wie ein Fürst und Herrscher! Und im Grunde ist er ja das auch. Ihn berauscht der Erfolg nicht mehr – mich wird er berauschen!“

Er richtete sich hoch und stolz auf. Doch auf einmal legte sich ein weicherer Ausdruck über seine Züge, während er fast unhörbar fortfuhr: „Welch ein holdes Kind diese Maja ist, so rein, so unberührt von jedem Schatten - und an der Hand des Kindes hängt die andere Hälfte dieser Macht und dieses Reichthums.“

Er öffnete das Fenster und lehnte sich weit hinaus; rastlose ehrgeizige Gedanken arbeiteten in der Seele des Mannes, während er auf die Werke zu seinen Füßen niederblickte. Der verwegene Spieler hatte nicht genug an dem einen glücklichen Zuge, den zweiten, den Meisterzug, behielt er sich noch vor. Oskar von Wildenrod war in der That nicht gemacht, von der Gnade seiner Schwester zu leben. –

Auch Cäcilie war noch nicht zur Ruhe gegangen; in die Polster des Sessels geschmiegt, verharrte sie regungslos an ihrem Platze. Sie hatte die welkenden Rosen von der Brust genommen und zerpflückte sie in achtlosem Spiel. Sie waren ein Geschenk Erichs, mit dem er sie bei der Begrüßung empfangen hatte – prachtvolle mattgelbe Rosen, eine Erinnerung an ihren Verlobungstag, an dem sie die gleichen Blumen getragen hatte. Die welken Blätter rieselten nieder auf das Kleid und den Fußboden – die junge Braut beachtete es nicht; wie traumverloren blickte sie vor sich hin. Es waren offenbar keine freundlichen Gedanken, die sie umschwebten. Auf ihrer Stirn, zwischen den feinen Brauen, stand wieder die Falte, der verhängnißvolle Zug, den sie mit dem Bruder gemeinsam hatte, und jetzt waren es auch seine Augen, die aus ihrem Antlitz blickten – in dieser Minute sah man es deutlich, daß die beiden eines Blutes waren.




Die Verlobung des jungen Erben von Odensberg mit Baroneß Wildenrod war nun in der That veröffentlicht worden und hatte in den Kreisen der Nachbarschaft aufs höchste überrascht. Man hatte stets angenommen, Dernburg werde auch in dieser Beziehung seinen Sohn bevormunden und sich bei dessen Vermählung das erste Wort vorbehalten, und nun hatte Erich fern im Süden seine eigene Wahl getroffen, ohne um Rath oder Erlaubniß zu fragen. Die Schönheit der Braut, ihr altadliger

Gut verwahrt.
Nach einem Gemälde von R. Völcker.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 85. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_085.jpg&oldid=- (Version vom 9.9.2021)