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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


„Nun heißt der Mensch auch noch Engelbert!“ rief der Doktor ärgerlich. „Der Name ist gerade so sentimental wie das ganze unausstehliche Gesicht. Engelbert und Leonie – das paßt ja ausgezeichnet zusammen! Die beiden werden wohl in schwermuthsvoller Sehnsucht miteinander gesäuselt haben wie ein paar Trauerweiden.“

„Er ist ja tot, der Arme,“ warf Dagobert ein.

„Wird wohl im Leben auch nicht viel Gescheites angefangen haben,“ grollte Hagenbach, „Und besonders gute Nahrung scheint er auch nicht gehabt zu haben, ehe er in den Wüstensand gerieth. Es ist eine wahre Jammergestalt! Uebrigens muß ich jetzt fort, ich lasse mich dem Fräulein empfehlen. Viel Vergnügen zu der ‚nervösen‘ englischen Stunde!“

Damit nahm der Doktor Hut und Stock und ging. Mißmuthig stieg er die Treppe hinunter, der „sentimentale Wüstenmensch“ schien ihm die Laune gründlich verdorben zu haben. Plötzlich blieb er stehen.

„Ich habe dies Gesicht schon irgendwo gesehen, dabei bleibe ich. Aber merkwürdig – es sah ganz anders aus!“ Mit diesem geheimnißvollen Ausspruch schüttelte er unmuthig den Kopf und verließ das Haus.

Das Wetter draußen nahm sich in der That nicht sehr einladend aus, es war einer jener kalten stürmischen Frühlingstage, wie sie in den Bergen so häufig sind. Zwar sah es nicht mehr winterlich öde aus wie vor einigen Wochen, die Bäume hatten sich schon mit frischem Grün umkleidet und auf Feldern und Wiesen erblühten die ersten Blumen, aber es ging recht langsam vorwärts mit diesem Blühen und Wachsen, denn der Sonnenschein fehlte.

Dunkle Wolkenzüge jagten am Himmel dahin, die Baumwipfel beugten sich sausend im Winde, aber das kümmerte das junge Mädchen nicht, welches mit leichten Schritten auf einem schmalen Waldpfad vorwärts eilte. Maja wußte zwar, daß der Vater es nicht liebte, wenn sie allein so weite Spaziergänge unternahm, sie war auch anfangs nur an der Grenze des Parks umhergestreift, allein dann jagte Puck über die Wiesen und sie jagte ihm nach, und dann ging es in den Wald hinein, nur eine kleine Strecke, aber es war so schön dort unter den brausenden Tannen, es lockte sie weiter und weiter in die grüne Einsamkeit. Welche Lust, einmal so ganz allein umherzulaufen, mit dem bellenden Puck um die Wette! Maja vergaß über diesem Vergnügen vollständig die Rückkehr, bis sie etwas unsanft daran gemahnt wurde.

Die dunklen Wolken, die schon den ganzen Tag gedroht hatten, schienen endlich Ernst machen zu wollen, es fing zu regnen an, erst leise, dann immer stärker, und bald stürzte ein Guß vom Himmel herab, der an Heftigkeit einem echten Gewitterregen nicht das Mindeste nachgab.

Maja hatte sich unter eine große Tanne geflüchtet, aber sie fand doch nur für den Augenblick Schutz. Es dauerte nicht lange, so tropfte und rieselte es von allen Zweigen, sie stand wie unter einer Dachtraufe. Und dabei wurde der Himmel immer dunkler. Das war kein schnell vorübergehender Regenschauer, da blieb nichts übrig, als in möglichster Eile nach dem Waldhäuschen zu laufen, das nur zehn Minuten entfernt war und ein sicheres Obdach bot. Gedacht, gethan! Das junge Mädchen stürmte dahin über Stock und Stein, auf dem nassen Moosboden, zwischen triefenden Bäumen, endlich über eine Waldlichtung, wo Wind und Regen sie mit voller Gewalt überfielen, bis sie endlich athemlos und durchnäßt mit ihrem kleinen vierfüßigen Begleiter in dem Waldhäuschen ankam.

Das Häuschen gehörte zu der Odensberger Försterei, lag aber fast eine halbe Stunde von dieser entfernt, mitten im Walde. Zur Winterszeit, wenn tiefer Schnee gefallen war, fütterte man hier das hungernde Wild und barg ebenda die Vorräthe für die Thiere. Es war eine kleine, nur aus Brettern und Baumstämmen zusammengefügte Hütte, mit einem wetterfesten Dach und zwei niedrigen Fenstern, jetzt im Frühjahr gänzlich leer und unbenutzt, aber ein willkommener Zufluchtsort für die beiden Flüchtlinge.

Maja schüttelte sich, daß die Tropfen nach allen Richtungen sprühten. Ihrem Regenmantel hatte der Guß nichts geschadet, obgleich das Wasser aus den Falten floß, aber ihr Hütchen, das sie jetzt vom Kopfe nahm, war um so übler zugerichtet. Das zierliche Ding mit seinen Spitzen und Federn war nur noch eine formlose Masse, und nicht viel besser nahm sich Puck aus. Sein weißes Fellchen triefte, die langen, sonst seidig glänzenden Haare hingen in nassen Strähnen herab, und er bot in seinem völlig durchweichten Zustand einen so trübseligen Anblick, daß seine Herrin laut auflachte.

„Siehst du Puck, das haben wir nun davon!“ sagte sie mit komischer Verzweiflung. „Warum sind wir nicht gescheit gewesen und im Parke geblieben. Wie sehen wir aus und wie wird der Papa schelten! Aber du bist schuld, du bist zuerst in den Wald gelaufen. Gott sei Dank, daß wir wenigstens im Trockenen sitzen, sonst wären wir alle beide nach Radefeld hinuntergeschwemmt worden, und der Egbert hätte uns auffischen müssen.“

Sie warf das gänzlich verdorbene Hütchen auf die niedrige Bank, die sich an der Seitenwand hinzog, ließ sich nieder und sah durch das kleine Fenster in das Unwetter hinaus. Der Regen stürzte noch immer mit unverminderter Gewalt vom Himmel und der Wind sauste um das Häuschen, als wollte er es fortwehen. An die Heimkehr war vorläufig nicht zu denken. Maja ergab sich in das Unvermeidliche, zog die Kapuze ihres Regenmantels über den Kopf und beobachtete Puck, der seine Nase durch den Spalt der offen gebliebenen Thür steckte und mißmuthig die fallenden Tropfen verfolgte.

Da erschien drüben am Waldesrand eine Gestalt, die einen Augenblick stehen blieb und sich suchend umschaute, dann aber im Laufschritt über die Lichtung eilte, geradeswegs auf das Waldhäuschen zu. Jetzt erreichte es der Fremde, der offenbar auch auf der Flucht vor dem Wetter war; er setzte mit einem kühnen Sprung über den kleinen See, der sich bereits vor der Thür gebildet hatte, und stieß diese so heftig auf, daß der neugierige Puck entsetzt zurückfuhr, dann aber mit lautem Gebell auf den Eindringling losstürzte, der sich unterfing, ihm und seiner Herrin den Alleinbesitz der Hütte streitig zu machen.

„Nicht so zornig, du kleiner Kläffer!“ rief der Fremde lachend. „Bist du etwa Herr und Meister hier in dem verwunschenen Häuschen oder ist’s das graue Wichtelmännlein, das auf der Bank dort kauert?“

Er hatte sich niedergebeugt, um das Thierchen zu greifen, das ihm schleunigst entwischte und in die Ecke flüchtete, aus der sich jetzt ein halbunterdrücktes Lachen und ein feines Stimmchen vernehmen ließ.

„Das Wichtel bedankt sich für die gute Meinung.“

Der Fremde wurde aufmerksam, die Antwort verrieth ihm, daß es nicht, wie er im ersten Augenblick geglaubt hatte, ein Köhler- oder Bauernkind war, das dort im Halbdunkel des dämmerigen Raumes kauerte. Er blickte schärfer hin, aber die tief herabgezogene Kapuze ließ nichts weiter sehen als einen kleinen rosigen Mund, ein zierliches Näschen und ein Paar großer brauner Augen, die nun auch neugierig und erstaunt den Eindringling musterten.

(Fortsetzung folgt.)



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Eine muthige Frau

Es sind fast beängstigende Eindrücke, welche ein Blick auf das Getriebe der Gegenwart in uns hinterläßt. Ein unentwirrbar scheinender Knäuel großer und ernster Fragen harrt der Lösung, Altes, Ueberlebtes versinkt, Neues, Unerprobtes taucht empor, dem es doch an der rechten Weihe, der rechten Stetigkeit fehlt. Allüberall ein Ringen und Kämpfen, ein sich Stoßen und Befehden! Und sehnsüchtig blickt manches Auge umher, ob nicht ein hervorragender Geist erstehe, ein erlösendes Wort zu sprechen.

Und in diesem scheinbaren Wirrwarr unserer Gegenwart arbeiten, schaffen und forschen stille, freundliche, aufopfernde Naturen; jene leisen Kräfte im Menschenleben, welche vielleicht mehr zum Fortschritt in der Menschheit beitragen als die gewaltigen Gestalten, die so mächtig, aber auch oft so zerstörend einwirken.

Eine solche Erscheinung ist auch die Frau, mit der die folgenden Zeilen sich beschäftigen sollen, Miß Kate Marsden.

Wer ist Miß Marsden? Wenige wissen wohl von ihr.

Es giebt Frauengestalten, welche den Blick sofort auf sich ziehen, welche kein „Vorbeisehen“ gestatten. Jedermann fragt:

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 104. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_104.jpg&oldid=- (Version vom 28.9.2021)