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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Graf Viktor sah ein, daß er auf diesem Wege nicht zum Ziele kam, das helle Lachen und die Stimme verriethen ihm aber, daß es ein noch sehr junges Mädchen sein mußte, das auf solche Weise mit ihm Verstecken spielte. Es blitzte übermüthig auf in seinen Augen, während er mit einer tiefen Verbeugung und scheinbarem Ernste sagte: „In der That, ich glaube jetzt die Stimme zu erkennen und auch die Gestalt – ich habe wohl die Ehre, dem Freifräulein Corona von Schmettwitz gegenüberstehen?“

Das Mittel half; wie von einer Feder geschnellt fuhr das Wichtel plötzlich aus der dunklen Ecke empor, die Kapuze flog zurück, und aus der hellen Fluth des offenen Blondhaars, die sich über den grauen Mantel ergoß, hob sich Majas reizendes Köpfchen mit dem süßen Kindergesicht, das in diesem Augenblick purpurroth war vor Entrüstung.

Corona von Schmettwitz! Das vierzigjährige Stiftsfräulein mit der hohen Schulter und der schnarrenden Stimme! So sollte sie aussehen? So sollte sie sprechen? Sie sah den Grafen vernichtend an.

Dieser mochte wohl nicht geglaubt haben, daß die graue Hülle etwas so Holdseliges berge, denn er blickte in starrer regungsloser Verwunderung auf das junge Mädchen, dessen lichte Erscheinung wie ein Sonnenstrahl in der düsteren Umgebung auftauchte. In der ersten Minute erkannte er sie offenbar noch nicht, dann aber dämmerte ihm eine Erinnerung auf, und beinahe jubelnd rief er: „Klein Maja! – Ich bitte um Verzeihung, gnädiges Fräulein, das war noch eine Erinnerung aus der Kinderzeit!“

Maja lachte fröhlich auf. „Ja, damals trug ich noch kurze Kleidchen und lange, lange Zöpfe, an denen Sie mich immer festhielten. Aber jetzt bin ich böse, Herr Graf, sehr böse – für Corona Schmettwitz haben Sie mich gehalten!“

„Eine Kriegslist, die Sie dem Soldaten schon verzeihen müssen! Auf andere Weise hätte ich die Wahrheit nicht so rasch erfahren. Oder glauben Sie im Ernst, daß ich Sie mit jener Dame verwechseln könnte, vor der ich schon als Knabe eine solche Hochachtung hegte, daß ich regelmäßig davonlief wenn sie im Anzug gegen Eckardstein war? – Wie, noch immer böse gegen den einstigen Spielkameraden Ihres Bruders? Er ist doch oft genug auch der Ihrige gewesen.“

„Jawohl, Sie ließen sich öfter herab, mit ‚Klein Maja‘ zu spielen,“ schmollte diese, indem sie das Haar zurückwarf. „Der Name ist das Einzige, was Sie behalten haben.“

„Ich habe doch wohl noch etwas anderes behalten,“ sagte der junge Graf langsam, während sein Auge unverwandt auf dem lieblichen Gesichtchen haftete. „Ich hätte Sie sonst nicht sofort erkannt, als die graue Wichtelhülle fiel. Jedenfalls wäre ich in den nächsten Tagen nach Odensberg gekommen. Erich ist ja daheim, wie ich höre.“

„Ja, und er ist Bräutigam! Das wissen Sie vermuthlich noch gar nicht?“

„Doch, ich habe die Anzeige seiner Verlobung erhalten und bin ihm noch meinen Glückwunsch schuldig. Ich habe überhaupt so viel zu fragen und zu hören, bin ich doch ganz fremd geworden in der Heimath, und da wir gerade Zeit haben –“

„Wir haben durchaus keine Zeit,“ rief Maja, mit einem Blicke nach der offen gebliebenen Thür. „Sehen Sie nur, es hellt sich auf, der Regen hat nachgelassen. Ich glaube, das Wetter ist vorüber.“

Graf Viktor trat in die Thür und sah nach den Wolken, aber mit einer Miene, die große Enttäuschung verrieth. Er hatte vorhin die Sturzbäder des Himmels rücksichtslos gefunden, jetzt schien er die Aufklärung des Wetters noch weit rücksichtsloser zu finden. „Ja, das Regnen hört auf – aber es wird bald wieder anfangen,“ sagte er hoffnungsvoll. „Jedenfalls müssen wir noch den nächsten Guß abwarten.“

„Damit wir vollständig hier eingeregnet werden?“ fiel Maja ein. „Nein, ich benutze die Pause und laufe schleunigst nach Odensberg. Komm, Puck, wir laufen!“

„Dann laufe ich mit,“ lachte der Graf. „Also ‚Puck‘ heißt das kleine weiße Geschöpf, das mir die Gastfreundschaft im Waldhäuschen versagen wollte. Komm her, du Kläffer, wir wollen Bekanntschaft machen!“

Puck hatte anfangs den Fremden mit sehr mißtrauischer Miene betrachtet und war offenbar noch nicht mit sich einig geworden, ob er ihn als Feind oder Freund behandeln solle, entschied sich aber jetzt doch für das letztere. Als der junge Mann ihn lockte, kam er zutraulich näher und ließ sich streicheln.

So traten denn die Drei gemeinschaftlich den Rückweg an. Der Regen hatte allerdings aufgehört, doch auf der freien Lichtung stürmte es noch gewaltig, und als man in den Schutz der Bäume gelangte, führten die brausenden Wipfel ein kleines Nachspiel des Wolkenbruchs auf – es troff und rieselte von allen Zweigen. Und der etwas tief liegende Fußpfad hatte sich in ein rinnendes Bächlein verwandelt, so daß Maja und ihr Begleiter den Weg seitwärts über Moos und Baumwurzeln suchen mußten. Der Waldbach war hoch angeschwollen und hatte die Ufer zu beiden Seiten des erhöhten Stegs überschwemmt. Man mußte, von Stein zu Stein springend, den Uebergang versuchen. Dabei verlor Puck das Gleichgewicht, glitt ins Wasser und erhob ein klägliches Jammergeschrei, weil er sich in dem Strudel nicht zu halten vermochte. Maja, die bereits am andern Ufer stand, stieß vor Angst um ihren Liebling einen Schmerzensruf aus, und Graf Eckardstein sprang mit beiden Füßen in das Wasser, packte das zappelnde Geschöpf und brachte es seiner Herrin, die den muthigen Retter mit einem dankbaren Blick empfing. Endlich wurde noch mitten im Walde ein blühender wilder Apfelbaum entdeckt, der dem jungen Mädchen einen Ausruf des Entzückens entlockte und dem Grafen Gelegenheit gab, seine Turnkunst zu zeigen. Er blieb aber leider an einem Aste hängen, als er einen der Zweige brach, und kam mit einem klaffenden Riß im Aermel wieder auf den Boden.

Es war ein Weg voll Abenteuer. Die beiden jungen Wanderer kämpften sich lustig durch den Sturm, lachten hell auf, wenn ein Windstoß durch die Bäume fuhr und sie mit einem tüchtigen Sprühregen überschüttete, sprangen und kletterten unverdrossen über Steine und Wurzeln und wurden immer vergnügter, je unwegsamer sich der Wald zeigte. Das war ein Lachen und Plaudern, ein Fragen und Erzählen ohne Ende. Alle alten Kindheits- und Jugenderinnerungen wurden wieder lebendig. Ringsum zwischen den Tannen schwebten graue Nebel und am Himmel jagten dunkle Wolken dahin, aber über den beiden Menschenkindern lag der helle Sonnenschein der Jugend und des Glücks. Was kümmerte sie Wind und Wetter!

Endlich war der Odensberger Park erreicht, der sich fast unmittelbar an den Bergwald anschloß. Maja näherte sich eben der kleinen Gitterthür, durch die sie vor einigen Stunden in das Freie gelangt war, als diese sich plötzlich öffnete und Oskar von Wildenrod ihr hastig entgegentrat.

„Aber Maja, wie konnten Sie in solchem Wetter allein –“ er brach plötzlich ab und musterte mit sichtbarem Befremden ihren Begleiter, den er jetzt erst bemerkte.

Maja, welche die Kapuze wieder über den Kopf gezogen hatte und das verregnete Hütchen am Arme trug, lachte übermüthig auf. „Sie glaubten wohl, ich und der Puck seien in dem Wolkenbruch zu Grunde gegangen? Nein, wir sind beide noch vorhanden und haben sogar unterwegs Gesellschaft gefunden. Doch die Herren kennen sich ja noch gar nicht! Graf Viktor von Eckardstein – Freiherr von Wildenrod, der künftige Schwager meines Bruders.“

Wildenrod erwiderte mit einer gewissen Zurückhaltung den freundlichen Gruß des Fremden, der lachend sagte: „Ich freue mich, Ihre Bekanntschaft zu machen, Herr Baron, obgleich dies meinerseits in einem völlig aufgeweichten Zustande geschieht. Sonst pflege ich trockener zu sein, ich versichere es Sie, aber heute war ich wirklich nicht auf eine Vorstellung gefaßt. Ich wollte nur Fräulein Dernburg bis zum Eingang des Parkes geleiten und mich dann empfehlen.“

„Sie wollen Papa und Erich nicht begrüßen?“ fiel Maja ein.

„Nein, mein gnädiges Fräulein, in solchem Aufzug möchte ich denn doch nicht im Odensberger Herrenhause erscheinen. Aber ich komme in den nächsten Tagen – wenn ich darf.“

Seine Augen suchten bei den letzten Worten die des jungen Mädchens, das neckisch sagte. „Fürchten Sie, daß ich es Ihnen verbiete?“

„Wer weiß! Wassergeist und Wichtel vertragen sich nicht, das habe ich vorhin aus Ihrem eigenen Munde hören müssen. Trotzdem will ich es wagen. Einstweilen bitte ich Sie, dieses Friedenszeichen von mir anzunehmen. Sie wissen ja, wie schwer es errungen wurde.“ Er überreichte ihr mit einer leichten Verbeugung den Blüthenzweig, den er noch in der Hand trug.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 118. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_118.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)