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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Religion beherrschte damals die ganze Litteratur. So ist es auch begreiflich, daß Chiliasten und andere Phantasten des Mittelalters eine Aenderung der Verhältnisse und die Herbeiführung einer goldenen Zeit nicht durch eine menschliche Revolution , sondern von der göttlichen Allmacht erwarteten.“

Trotz alledem wäre es weder ganz zutreffend noch auch ganz gerecht, wenn man sagen wollte, jene Utopisten des Mittelalters seien dabei weiser gewesen als diejenigen der Gegenwart. Nein! Wer nur immer das Mittelalter kennt, weiß, wie schroff hier „Ideal“ und „Wirklichkeit“ sich gegenüberstanden, weiß, welch entsetzliche Greuelthaten die frommen Kreuzfahrer im Heiligen Lande, bei der Eroberung der Heiligen Stadt unter dem Rufe „Gott will es“ verübten, weiß, wie nicht ausnahmsweise, sondern sehr oft furchtbare Wütheriche unmittelbar vor oder nach dem Genusse des Abendmahls die größten Blutbäder planten, wie die Religion selbst zur Ursache von Grausamkeiten wurde, welche unsere Zeit nicht mehr kennt. Die Lebensideale des Mittelalters waren wohl höher schweifende, phantastischere als diejenigen der neueren Zeiten, aber ihr Einfluß auf das wirkliche Handeln der Menschen war weit geringer, als man gewöhnlich annimmt. Was „höher“ war, das war eigentlich nur der Abstand zwischen Ideal und Wirklichkeit, zwischen Denken und Handeln, zwischen Weltanschauung und Weltgestaltung.

Somit glauben wir, daß, wie die Entwicklung des Menschengeschlechts und des Menschengeistes überhaupt, so auch die Staatsideale, die gesellschaftlichen Erkenntnisse und Ziele der Menschen vorwärts, nicht rückwärts schreiten; von ursprünglich phantastischen, unwirklichen Umrissen an beginnend, ringen sie sich zu immer größerem Wirklichkeitssinn und zu immer deutlicherem Wirklichkeitsgehalte durch.

Ein leuchtendes Beispiel hierfür scheint uns ganz besonders derjenige Mann zu sein, der, zwischen Mittelalter und Neuzeit mitten inne stehend, mit einem ganz eigenartigen Werke gleichsam den Typus für die eigentlichen „Weltverbesserungspläne“ geschaffen hat. Dieser Mann ist Thomas More, der berühmte, gelehrte Lordkanzler Heinrichs VIII. von England; er hat 1478 bis 1535 gelebt und sein Werk „Ueber den besten Staat und die neue Insel Utopia“, erschienen im Jahre 1516, hat mit dem Namen zugleich auch die Litteraturgattung der „Utopien“, der „Nirgendheime“, für die Folgezeit eröffnet. Von dieser denkwürdigen Schrift das nächste Mal!




Goethes letzte Liebe.

Eines der herrlichsten Goetheschen Gedichte, die sogenannte „Marienbader Elegie“, ist mit dem Namen Ulrike von Levetzow unauflöslich verbunden. Auch auf sie, die heute noch unter uns lebt und am 4. Februar dieses Jahres ihren neunzigsten Geburtstag gefeiert hat, ist ein Strahl der Dichtersonne gefallen; auch sie hat einen Antheil errungen an der Unsterblichkeit, die dem Namen Goethe anhaftet. Die neunzehnjährige, zu holder Schönheit und Anmuth emporgeblühte Jungfrau entflammte das ewig junge Herz des zweiundsiebzigjährigen Dichters zu leidenschaftlicher Liebe, die er zwar mannhaft niederkämpfte, aber nicht, ohne die schönen Stunden leidenvollen Glückes in seiner Dichtung zu verherrlichen. Man hat wohl über die Leidenschaft des Greises gespöttelt, aber von der Selbstlosigkeit und Reinheit seiner Liebe, von dem Adel seiner Gefühle zeugen am besten die wunderbaren Verse der „Elegie“, die wir hier folgen lassen:

„In unsers Busens Reine wogt ein Streben,
Sich einem Höhern, Reinern, Unbekannten
Aus Dankbarkeit freiwillig hinzugeben,
Enträthselnd sich den ewig Ungenannten;

5
Wir heißen’s: fromm sein! – Solcher sel’gen Höhe

Fühl’ ich mich theilhaft, wenn ich vor ihr stehe.

Vor ihrem Blick wie vor der Sonne Walten
Vor ihrem Athem wie vor Frühlingslüften;
Zerschmilzt, so längst sich eisig starr gehalten,

10
Der Selbstsinn in winterlichen Grüften;

Kein Eigennutz, kein Eigenwille dauert,
Vor ihrem Kommen sind sie weggeschauert.“

Schloß Triblitz in Böhmen, der Wohnsitz von Ulrike v. Levetzow.

Wer war nun das wunderbare Wesen, das dieses heilige Bekenntniß der Liebe und der Macht des Weibes dem Dichter entlockt hat?

Ulrike von Levetzow ward am 4. Februar 1804 in Leipzig geboren als Tochter eines mecklenburgischen Hofmarschalls. Ihre Mutter, eine geborene von Brösigke, der Goethe schon im Jahre 1806 in Karlsbad nähergetreten war, verheirathete sich nach Trennung der ersten Ehe mit dem Vetter ihres ersten Gemahls, ebenfalls einem Herrn von Levetzow, der in der Schlacht bei Belle-Alliance fiel. Die Witwe verlebte den Sommer mit ihren Töchtern oft bei ihrem Vater, der sich in Marienbad ein Haus gekauft hatte. In demselben Hause wohnte Goethe, der die böhmischen Bäder wiederholt zur Stärkung seiner Gesundheit aufsuchte, vom 12. Juni bis 4. Juli 1822 und kam dadurch mit der Familie und auch mit der achtzehnjährigen Ulrike in nahe Verbindung. Ob der tiefe und unauslöschliche Eindruck, den das an Geist und Körper vollkommene Mädchen auf das Herz des Dichters ausgeübt hat, schon aus dieser Zeit sich herschreibt, darüber fehlt es an genauerer Kunde, aber das gerade damals gedichtete Gespräch „Aeolsharfe“, in dem zwei Liebende beim Abschied Trost in der Erinnerung des genossenen Glückes finden wollen, läßt sich gar nicht anders erklären.

Die letzten Worte dieses Gedichtes:

„Ja, du bist wohl an Iris zu vergleichen,
Ein liebenswürdig Wunderzeichen!
So schmiegsam herrlich, bunt in Harmonie
Und immer neu und immer gleich wie sie.“

waren Goethe, wie er an Zelter schrieb, besonders ans Herz gewachsen.

Der Magnet zog ihn schon im nächsten Jahre wieder nach Marienbad. Am 2. Juli kam er dort an, am 11. Juli folgte Frau von Levetzow mit ihren Töchtern. Diesmal trafen sie dort eine hohe fürstliche Gesellschaft, darunter den Herzog Karl August, den

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 124. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_124.jpg&oldid=- (Version vom 11.9.2021)