verschiedene: Die Gartenlaube (1893) | |
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Nr. 9. | 1893. | |
Illustriertes Familienblatt. – Begründet von Ernst Keil 1853.
Cäcilie sah schweigend zu, wie Runeck zu dem Kreuz schritt, das an der
dem Thal zugewandten Seite des Felsgipfels dicht am Abhang
stand, und es untersuchte. Er that das sehr eingehend und gründlich,
und es vergingen wohl zehn Minuten, ehe er sich wieder umwandte.
„Die Herren haben sich getäuscht,“ sagte er ruhig, „das Kreuz steht vollkommen fest und sicher, und von einer Senkung ist keine Rede. Vielleicht haben Sie die Güte, das in Odensberg mitzutheilen; ich komme erst übermorgen dorthin und darf wohl annehmen, daß Sie kein Geheimniß aus Ihrem Wagniß machen wollen.“
„Im Gegentheil, ich denke tüchtig damit zu prahlen. – Schauen Sie mich nicht so erstaunt an, Herr Runeck! Sehen Sie, dieser Spitzenschleier gehört nicht eben zu meinem Touristenanzug, ich habe ihn mitgenommen, um zu beweisen, daß ich wirklich auf dem Albenstein gewesen bin. Ich vermochte ja nicht zu ahnen, daß ich Sie hier treffen und Ihr Zeugniß in Anspruch nehmen könnte.“
Und damit löste Cäcilie den weißen Spitzenschleier, der lose um Schulter und Taille geschlungen war, und schritt dem Kreuze zu.
„Was wollen Sie damit?“ fragte Egbert, ihr befremdet nachblickend.
„Ich sagte es Ihnen ja schon: ein sichtbares Zeichen zurücklassen, damit man mir in Odensberg das Wagestück glaube. Mein Schleier soll dort am Kreuze wehen.“
„Wozu? Das ist Verwegenheit, Tollkühnheit! Kommen Sie zurück!“ Der Ruf klang befehlend, angstvoll, aber Cäcilie hörte nicht darauf. Unmittelbar am Rande des Abgrundes stehend, schlang sie den Schleier um das Kreuz. Es war ein beängstigender Anblick – eine einzige unvorsichtige Bewegung, und sie lag zerschmettert drunten in der Tiefe.
„Fräulein von Wildenrod, kommen Sie zurück! Ich bitte Sie!“ Die Stimme des jungen Ingenieurs war dumpf und gepreßt, es lag etwas wie Todesangst darin.
Cäcilie wandte sich um und lächelte. „Können Sie wirklich bitten, Herr Runeck? Ich komme sogleich, nur noch einen Blick in die Tiefe, das reizt mich nun einmal.“ Und sie beugte sich, den rechten Arm um das Kreuz geschlungen, wirklich über die jäh abstürzende Felswand und blickte furchtlos hinab.
Egbert that unwillkürlich einen Schritt vorwärts, sein Arm zuckte, als wollte er sie gewaltsam von dem gefährlichem Standort wegreißen. Er that es
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 133. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_133.jpg&oldid=- (Version vom 15.4.2023)