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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

alten qualvollen Leiden, nicht etwa nur ein Hinausschieben des Todes auf dem Siechenlager, sondern dieser Stillstand war derart, daß die Halbgenesenen noch eine Reihe von Jahren arbeitsfreudig ihrem Berufe nachgehen, des Lebens Freuden mit weisem Maße genießen konnten.

Das war ein herrlicher Triumph der ärztlichen Kunst, der auf deutschem Boden, in der würzigen Luft des deutschen Waldes erstritten wurde!

Kein Wunder, daß Anstalten für Lungenkranke an geeigneten Orten in immer wachsender Zahl gegründet wurden! Mit froher Hoffnung konnten Tausende in ihnen Unterkunft, Rettung und Heil finden. Aber dieser Wohlthat waren nur die Bemittelten theilhaftig; denn die Erhaltung einer solchen Anstalt kostet Geld, und so sind auch die Kurkosten nicht unerheblich. Aber die Lungenschwindsucht lst eine Volksseuche; in allen Ständen wüthet sie, rafft Reich und Arm dahin! Wie vermochten die Unhemittelten von diesen neuen Errungenschaften der Heilkunde Nutzen zu ziehen! Wohl konnten da und dort, dank den Stiftungen mildthätiger Menschenfreunde, einige wenige Kranke zu ermäßigten Preisen oder unentgeltlich aufgenommen werden, aher der Hauptmasse blieben die Thore der Heilanstalten verschlossen. Sie werden krank und siechen dahin. Der Arzt kann ihnen nur Linderungsmittel verschaffen; in der Todesangst nehmen sie ihre letzten ersparten Groschen und kaufen die Geheimmittel, welche pomphaft gegen die Lungenschwindsucht von der nichtswürdigen Sorte moderner Charlatane angepriesen werden, aher keine heilenden Eigenschaften besitzen. Die Arbeitskraft der Kranken erlahmt, der Verdienst bleibt aus; Elend und Jammer halten ihren Einzng in den Familien, bis der Tod nach qualvollem Leiden die Aermsten erlöst; denn wie soll die Schwindsucht in der rußigen Großstadt, in dem dumpfen Moder der Kellerwohnungen bei der ungenügenden Nahrung heilen? Sie muß zum tödlichen Ausgang führen, sicher ist sie unter solchen Umständen unheilbar, und ihre dahinsterbenden Opfer säen unter der verwahrlosten Pflege die Keime der Tuberkulose in ihren elenden Wohnstätten aus.

Kann man dieses Elend lindern? Schon vor einer Reihe von Jahren traten Menschenfreunde mit dem Vorschlag hervor, besondere Anstalten für unbemittelte Lungenkranke zu gründen. Im Jahre 1882 veröffentlichte Dr. Driver, Leiter der Heilanstalt in Reiboldsgrün, in der „Gartenlaube“ einen Artikel, in dem er warm für die Errichtung von „Volkssanatorien“ für Brustkranke eintrat. Damals aber flossen die milden Gaben nur spärlich und es konnten mit ihrem Ertrage nur einige wenige Freistellen für unbemittelte Kranke gestiftet werden. Man war zu jener Zeit in weiteren Kreisen noch nicht so voll und ganz von der Brauchbarkeit der neuen hygieinisch-diätetischen Heilmethode überzeugt. Aber der gute Gedanke drang durch. England gründete an seinen Südküsten einige solche Anstalten, und nachdem in Deutschland die Hoffnungen auf das Tuberkulin sich als unzutreffend erwiesen hatten, erwog man auch bei uns ernster die Tragweite einer solchen zweckmäßigen Bekämpfung der Lungenschwindsucht. Noch einmal ergriff Dr. Driver in der „Gartenlande“ (1890, Nr. 34) das Wort und stützte die gute Sache durch eine Reihe von gewichklgen Zeugnissen hervorragender Aerzte.

Und endlich – am 15. August vorigen Jahres – wurde die erste deutsche Heilstätte für unbemittelte Brustkranke in Falkenstein im Taunus errichtet, von der unser Bild auf Seite 165 eine Anschauung giebt. Angeregt durch die ergreifenden Schilderungen von dem traurigen Schicksal dieser Leidensopfer, beschloß der Frankfurter Verein für Genesungsanstalten auch eine Heilstätte für Brustkranke zu begründen. Ein kleines Anlagekapital wurde zusammengebracht; man schloß mit 15 Ortskranken- und Gewerbekassen sowie mit Hospitälern Verträge ab, laut welchen jedem von denselben eingewiesenen Lungenkranken gegen ein Entgelt von 2 Mark für den Tag die Wohlthat der Aufnahme in die geplante Heilstätte uneingeschränkt zutheil werden sollte. Inzwischen war eine kleine Anstalt bei Falkenstein, welche in früheren Jahren zur Aufnahme strenggläubiger Israeliten gedient hatte, unter Vorkaufsrecht gemiethet, den besonderen Zwecken entsprechend für 25 Kranke aufs beste in den Stand gesetzt, eine nach Süden offene Liegehalle erbaut und mit bequemen Liegesesseln versehen worden, was alles mit einem Kostenaufwand von etwa 12000 Mark bestritten werden konnte. Die kleine Heilstätte, die unter dem Protektorat der Kaiserin Friedrich steht, liegt unmittelbar am Walde, hat einen schattigen Garten mit zahlreichen Sitzplätzen, ein ausgedehntes Vorgelände von herrlichen Obstbäumen und Wiesen und eine geradezu entzückende Fernsicht über Cronberg, Frankfurt und die Mainebene nach dem Spessart und dem Odenwalde. Das Gebäude ist nur 7 Minuten von der Heilanstalt Prof Dr. Dettweilers in Falkenstein entfernt, und der Leiter derselben hat in dankenswerther Weise die Behandlung der unbemittelten Kranken übernommen. Die neue Heilstätte ist mit der großen Anstalt telephonisch verbunden und wird abwechselnd von Prof. Dr. Dettweller, Dr. Engelbrecht, der in ihr als Hausarzt fungiert, und Dr. Heß besucht, während die Viktoriaschwester Gabriele als Pflegerin und Vorsteherin des Hauswesens wirkt.

So genießen die Unbemittelten die Vortheile der Falkensteiner Heilmethode im vollsten Maße. Sie verbringen den Tag unter steter Aussicht der Schwester, in der vorgeschriebenen Weise, methodisch gehend, steigend, spielend, lesend, zum Theil in leichter Beschäftigung wie Kerbschnitzen etc., besonders aber von früh bis zum Schlafengehen in der offenen Halle ruhend. Dies alles im Verein mit einer reichlichen, schmackhaften, die Milch bevorzugenden Verpflegung hat dis jetzt höchst erfreuliche Erfolge gebracht. Und wie heiter sind die früher so Bedrängten geworden, wie dankbar für die brüderliche Hilfe! In der Behandlung des mit Ansteckungskeimen behafteten Auswurfes sind sie so musterhaft reinlich, daß viele Leidensgenossen aus den reicheren Gesellschaftsschichten sich an ihnen geradezu ein Beispiel nehmen könnten.

In dieser Hinsicht stiftet die Hellstätte noch einen besonderen Nutzen. Die Leidenden werden in ihr nicht nur geheilt, sondern auch in den Grundsätzen der Hygieine unterrichtet, sie lernen durch sorgfältige Behandlung des Auswurfs der Verbreitung der Tuberkulose entgegenwirken, und so verlassen sie die Anstalt auch als Bekenner und Verbreiter richtiger Grundsätze.

Wir verweilen so lange bei dieser kleinen Heilstätte, denn sie ist der erste Stein zu einem köstlichen Baue der Nächstenliebe, der in den nächsten Jahren ausgefuhrt werden muß. 25 Brustkranke segnen heute die Wohlthat, die ihnen zutheil geworden ist, aber im deutschen Vaterlande dulden noch unendlich viele, der Hilfe harrend. Es regt sich auch in Deutschland. Berlin hat in Malchow eine Versuchsheilstätte errichtet, in anderen Städten entwirft man Pläne. Aber auch der zaghafte Kleinmuth macht sich geltend. Als unheilhar, als ein unvermeidliches Uebel wurde früher die Lungenschwindsucht geduldig ertragen; jetzt, da ein Weg zu ihrer Bekämpfung gefunden wurde, sagen die Kleinherzigen, die Größe des Elends sei so groß, daß man unmöglich allen Bedürftigen Hilfe werde bringen können. Es ist wahr, die Verpflegung der Brustkranken in der Heilstätte kostet Geld, und Prof. Dr. Dettweiler berechnet die tägliche Ausgabe auf 2,15 bis 2,50 Mark für den Kranken. Aber man muß bedenken, daß auch heute diese unbemittelten oder wenig bemittelten Brustkranken Ausgaben verursachen; sie werden doch ernährt und verpflegt, sie fallen den Kranken- und Siechenhäusern zur Last; die Ortskrankenkassen geben auch für sie viel, sehr viel aus, und schließlich – werden nicht alljährlich Millionen für sogenannte Heilmittel gegen die Schwindsucht, für werthlose Säfte und Kräuter, aus den Taschen des Volkes gelockt? Diese Summen, welche die Tuberkulose schon heute fordert, müssen wohl in Betracht gezogen werden! Zusammengefaßt und in der richtigen Weise verwendet, könnten sie noch manche Anstalt wie die Falkensteiner ins Leben einführen und überall reichen Segen stiften.

Wir haben also keinen Grund, zu zagen und durch die Größe der Arbeit, die da bevorsteht, in kleinmüthiges Wanken zu gerathen. Im Gegentheil, gerade aus Rücksichten auf den Wohlstand des Volkes müssen wir die Arbeit zu fördern suchen; denn die Ausgaben der Gesamtheit erscheinen geringfügig im Vergleich zu dem Gewinn, den uns solche Heilstätten verheißen! Gewinn an Arbeitskraft in den schweren Tagen des Kampfes ums Dasein, Gewinn an Männerkraft in Zeiten der Gefahr, Gewinn an Zufriedenheit, Dank und Liebe in der Zeit, da Neid und Haß am Herzen des Volkes fressen! Darum möge die kleine Heilstätte im Taunus hinausleuchten in die deutschen Gaue und an alle, denen ein menschenfreundliches warmes Herz in der Brust schlägt, die eindringliche Mahnung richten:

„Thuet desgleichen!“




Weltverbesserer.

Von Dr. J. O. Holsch.
III.
Thomas Morus und die „Utopia“.
Nachdruck verboten.     
Alle Rechte vorbehalten.

Als Thomas More, der Sohn eines Richters, im Jahre 1478 zu London das Licht der Welt erblickte, da rang die jetzige Welthandelsstadt mit der noch mächtigen Hansa um ihre Existenz. Im Hause des gelehrten und staatsmännisch bedeutenden Kardinals Morton erhielt der junge Engländer eine vorzügliche humanistische Bildung, wurde Rechtsanwalt in seiner Vaterstadt, von der er, kaum 26jährig, unter Heinrich VII. in das Parlament entsandt ward. In welcher Weise er für das Wohl seiner Mitbürger eintrat, erschließen wir aus der glaubhaften Anekdote, daß ein Vertreter des Königs diesem die Ablehnung einer neuen Zehentauflage mit den Worten meldete, ein bartloser Knabe habe den Wunsch des Königs vereitelt. Zu verschiedenen wichtigen Aufträgen, namentlich handelspolitischer Natur, durch das Vertrauen der Londoner Kaufherren berufen, stieg er im öffentlichen Ansehen immer höher und wurde, als er nach langem inneren Widerstreben in den Staats- – damals Königs- – dienst trat, bald Lord Chancellor, englischer „Reichskanzler“. Da er sich aber weigerte, die Ehe des berüchtigten Königs Heinrichs VIII. mit Anna Boleyn als gesetzlich anzuerkennen, wurde er, den Gepflogenheiten der damaligen unumschränkten Monarchie entsprechend, wegen Hochverraths zum Tode in der entsetzlichsten Form verurtheilt, „zur Enthauptung begnadigt“ und am 6. Juli 1535 im Tower hingerichtet.

Dieser Mann, der auf der einen Seite mit den hervorragendsten Humanisten seiner Zeit, z. B. mit Erasmus von Rotterdam, aufs

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 170. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_170.jpg&oldid=- (Version vom 18.8.2023)