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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

bestimmte Reiseziel zu erreichen, aber es ist begreiflich genug, daß die Kaiserin Elisabeth und ihre Rathgeber nach näherer Erwägung der Sachlage zu ihrer eigeuen Sicherung einen Gegenbefehl erließen. Es bestand die Möglichkeit, daß die Familie Braunschweig, die inzwischen in Riga angekommen war, selbst wider ihren Willen von fremden Mächten oder von den in Rußland lebenden Gegnern der neuen Regierung dazu benutzt werden könnte, um gegenüber der Kaiserin Elisabeth und dem von ihr berufenen Thronfolger, ihrem Neffen Peter von Holstein, die Rolle einer Prätendentenfamilie zu spielen. Einige in die erste Regierungszeit Elisabeths fallende rechtzeitig vereitelte Verschwörungen, bei denen der Name des entthronten Iwan genannt wurde, zeigten deutlich, daß solche Befürchtungen nicht grundlos waren. Der österreichische Gesandte in Petersburg, Marquis Botta, begünstigte die Braunschweiger und wurde deshalb auf die Beschwerde der russischen Regierung abberufen.

Im Gegensatz zu ihm soll Friedrich der Große dem russischen Gesandten in Berlin die Ueberwachung der entthronten Familie angerathen haben. Es erschien als ein Gebot der Selbsterhaltung, daß Elisabeth ihre fürstlichen Verwandten, die ihr so gefährlich werden konnten, in ihrem Machtbereich behielt. So erging an den General Ssaltykow, der den Reisezug der Braunschweiger begleitete, der Befehl, die Reisenden nach der bei Riga gelegenen Festung Dünamünde zu bringen und dort in Gewahrsam zu halten. Hier wurde dem braunschweigischen Elternpaare im Jahre 1743 ein drittes Kind geboren, die Prinzessin Elisabeth. Von Dünamünde meinten die russischen Machthaber schließlich, daß diese Festung der Westgrenze zu nahe und etwaigen von auswärtigen Mächten unternommenen Befreiungsversuchen zu bequem liege, und so brachte man die Gefangenen im Jahre 1744 nach der von den Russen Ranenburg genannten Stadt Oranienburg, welche 40 Meilen südöstlich von Moskau liegt. Aber hier schienen sie wiederum vor einer Aufhebung durch inländische Feinde der Kaiserin nicht sicher, und so wurde angeordnet, sie noch in demselben Jahre nach dem im Weißen Meere gelegenen Ssolowetzkischen Kloster zu schaffen.

Die Haft der entthronten Familie war nicht die einzige Maßregel, die man gegen die gestürzte Regierung anwandte; man unternahm den verwegenen und wegen seiner Seltenheit merkwürdigen Versuch, die ganze Regierungszeit Iwans aus der geschichtlichen Erinnerung auszumerzen. Kaiserin und Senat verordneten, daß Name und Titel Iwans in keinem Aktenstück mehr erwähnt werden durften; konnte der Hinweis auf das Jahr seiner Herrschaft nicht vermieden werden, so sollte man, wenn die Jahreszahl nicht genügte, nur die Regentschaft des Herzogs Biron von Kurland oder die der Prinzessin von Braunschweig erwähnen. Alle im Namen Iwans erlassenen Verfügungen sollten unausgeführt bleiben. Alle Gerichtsurtheile und Regierungsbescheide, alle Bestallungsurkundeu und Pässe, kurz alle Schriftstücke, welche im Namen Iwans angefertigt waren, sollten an den Senat eingesandt werden. Fremdsprachliche Bücher, welche Angaben über Iwans Regierung enthielten, sollten an die Akademie der Wissenschaften abgeliefert, neue Schriften dieser Art an der Landesgrenze mit Beschlag belegt werden. Alle Münzen und Medaillen mit dem Bildniß des kleinen Kaisers sollten zur Einziehung gelangen. Der Erfolg dieser Maßregeln entsprach nicht ganz den Erwartungen. Münzen mit dem Bilde Iwans sind in den Münzsammlungen nicht allzu selten, und man hat neuerdings ein Rubelstück dieser Art nur mit sieben Rubeln bezahlt; wären fast alle Münzen Iwans eingeschmolzen, so müßte der Preis weit höher sein. Beim Senat sammelten sich über 3600 Aktenstücke an; da man sie nicht vernichtete, sondern nach einigen Menschenaltern der Forschung zugänglich machte, so ist das Gegentheil von dem eingetroffen, was Elisabeth beabsichtigt hatte. Anstatt daß die einjährige Regierung Iwans aus dem Gedächtniß der Menschen entschwand, ist dank jenen Urkunden kaum ein Jahr in der russischen Geschichte des 18. Jahrhunderts so genau bekannt wie das Jahr der Regierung Iwans.

Als die Familie Braunschweig im Jahre 1744 die Reise nach dem hohen Norden antreten mußte, wurde die Ueberwachung gegen früher noch erheblich verschärft. Die zur Begleitung befohlenen Offiziere wurden angewiesen, jeden mündlichen und schriftlichen Verkehr der Gefangenen mit Unberufenen zu hindern, keinerlei Sendungen für sie anzunehmen oder aufzugeben und alle ihre Fragen unbeantwortet zu lassen. Man trennte den unglücklichen Iwan von seinen Eltern und ließ ihn unter besonderen Vorsichtsmaßregeln in einem von starker Bedeckung umgebenen Wagen mit seinem Begleiter, dem Major Müller, allein vorausfahren. Es ist wahrscheinlich, daß die Eltern seit dem Aufbruch aus Ranenburg von ihrem Sohne nichts mehr erfahren und auch nicht gewußt haben, daß er auf der Reise und in der Gefangenschaft in ihrer Nähe war. Er wurde von seiner Umgebung mit dem Namen Gregor angeredet, während er in den amtlichen Berichten als „der namenlose Gefangene“ bezeichnet wurde. Erwähnten die Berichte „die bewußten Personen“ oder „eine gewisse Kommission“, so war damit die ganze braunschweigische Familie gemeint. Alle von den Aufsehern und Offizieren in dieser Angelegenheit erstatteten Berichte wurden an das Kabinett der Kaiserin gerichtet und nur von ihr oder ihren nächsten Vertrauten beantwortet.

Im Oktober des Jahres 1744 langten die Reisenden unter Führung des Kammerherrn von Korff in Cholmogory an, einer kleinen Stadt etwa 10 Meilen oberhalb der Stelle, wo die Dwina bei Archangel in das Weiße Meer fließt. Auf die Bitte des Kammerherrn, der ein humaner Mann war, erklärte sich die Kaiserin Elisabeth damit einverstanden, daß die Gefangenen in Cholmogory blieben, wo der Aufenthalt erträglicher und wohlfeiler war als in dem zuerst in Aussicht genommenen Inselkloster. Ein Platz vor der Stadt, auf dem eine Kirche und drei zweistöckige, ursprünglich zu geistlichen Amtswohnungen bestimmte Häuser standen, wurde mit einem starken, im Grundriß quadratförmigen Pallisadenzaun umgeben; jede Seite des Quadrates war etwa 400 Schritt lang; innerhalb der Pallisaden befanden sich einige bescheidene Gartenanlagen und ein Gewässer. In diesen Häusern wurden die Gefangenen mit ihren Begleitern und Aufsehern, mit ihren Dienern und Dienerinnen und mit den Bewachungsmannschaften untergebracht. Der frühere Kaiser Iwan lebte mit dem Major und mehreren Dienern in einem noch besonders umzäunten Hause, von Eltern und Geschwistern völlig abgesondert. Die zur Bewachung befehligten Soldaten wurden zwölf Jahre lang nicht abgelöst, damit sie über die Vorgänge in Cholmogory keine Kunde im Lande verbreiten könnten. Allen bei der Bewachung und Bedienung der Gefangenen verwendeten Personen war bei Todesstrafe verboten, in ihrem privaten Verkehr über Verhalten und Befinden dieser Gefangenen irgend welche Mittheilung zu machen.

Im Jahre 1745 wurde dem braunschweigischen Prinzenpaare ein Sohn geboren, der Peter getauft wurde, und im Jahre 1748 ein Sohn Alexei. Zehn Tage nach der Geburt Alexeis starb die Prinzessin Anna. Die Kaiserin Elisabeth verhehlte ihren Räthen den Unmuth über die Geburt der beiden Prinzen nicht, da sie in ihnen neue Thronprätendenten erblickte, doch waren ihre Bemühungen vergeblich, die Thatsache der Geburt vor den fremden Gesandten geheim zu halten. Den Tod der Prinzessin dagegen zu verheimlichen, hatte sie keinen Grund, ja sie scheint, als sie deren Leiche nach Petersburg bringen, öffentlich ausstelleu und mit großem Prunk bestatten ließ, die Absicht gehabt zu haben, allgemein bekannt zu geben, daß diese Prinzessin, die ihr Thronrecht bedrohen konnte, nun nicht mehr unter den Lebenden weile.

Für die Verpflegung und Bekleidung der Gefangenen war in der Regel ausreichend gesorgt, doch kam es zuweilen vor, daß die zu ihrem Unterhalt angewiesenen Geldsummen, die sich auf 10- bis 15000 Rubel jährlich beliefen, längere Zeit ausblieben, und daß dann die Gefängnißwärter in Verlegenheit geriethen, weil die Kaufleute in Archangel nicht immer Kredit geben wollten. Ein Arzt hatte zu den Gefangenen Zutritt, auch ein Geistlicher der griechischen Kirche, zu der sie sich alle bekannten. Den prinzlichen Kindern Unterricht zu ertheilen, war lange Jahre hindurch, wie es scheint bis zum Tode der Kaiserin Elisabeth, also bis zum Jahre 1762, streng verboten. Dem Verbot entgegen unterrichtete der Major Müller den früheren Kaiser im Lesen, und später unterwies der Herzog Anton Ulrich seine übrigen Kinder in den Anfangsgründen des Wissens. Man sprach und las nur noch russisch. Die Prinzen und Prinzessinnen verbrachten ihre Tage damit, daß sie ihren kirchlichen Pflichten genügten, in Andachtsbüchern lasen, Karten und Dame spielten, ihr Federvieh fütterten, in ihrem Garten spazieren gingen, im Sommer darin arbeiteten und im Winter sich darin auf dem Eise tummelten. Iwan durfte sich an gemeinschaftlichen Vergnügungen nie betheiligen. Mancherlei Eindrücke mußten auf die heranwachsenden Kinder ungünstig

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 206. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_206.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2020)