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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Heldenmuth und mühsam unterdrücktem Gähnen bis zum letzten Tropfen ausgekostet hatten, der Wirthin für den ‚hübschen‘, in schweren Fällen für den ‚genußreichen‘ Abend gedankt haben?“

Die Hausfrau hatte sich inzwischen gefaßt.

„Ja das sind Ausnahmen,“ fagte sie würdig, „diese hergebrachten Formeln der Gesellschaft nimmt jeder auf ihren Marktwerth an – das sind keine Lügen!“

„Und man könnte auch schlechterdings nicht ohne sie fertig werden,“ bemerkte Fräulein Schulz. „Denken Sie sich einmal den Zustand, der unfehlbar daraus hervorginge, wenn jedem unerwünschten Besuch entgegengerufen würde: ‚Ach, wie fatal, daß Sie schon wieder zu mir kommen!‘ Auch kann man sich doch unmöglich an Rehbraten und Eis bei einem lieben Nächsten satt essen und ihm dann mit einem Händedruck sagen: ‚Hören Sie ’mal, so habe ich mich aber seit Jahren nicht gelangweilt!‘“

„Das beste Mittel gegen die gesellige Lüge habe ich erlebt,“ sagte die Professorin Schwartz, eine noch immer auffallend hübsche muntere Frau. „Ich bin einmal so gründlich damit hereingefallen, daß ich hinterher ganze acht Tage den Besuchern nur dann den Bescheid vor die Thür schickte: ‚Es wird der gnädigen Frau sehr leid thun – sie ist ausgegangen‘, wenn es sich unbedingt nicht anders machen ließ.“

Neuigkeiten.
Nach einem Gemälde von A. Reuter.

„Das scheint ja allerdings eine moralische Radikalkur gewesen zu sein,“ meinte der Doktor. „Wollen Sie nicht zu Nutz und Frommen der lügenden Menschheit dieses Erlebniß veröffentlichen, gewissermaßen als Warnungstafel auf dem dünnen Eise der gesellschaftlichen Ehrlichkeit?“

„Warum nicht?“ sagte die Professorin. „Ich will sogar annehmen, daß alle mir nachher gespendeten Beifallsbezeigungen: ‚Wie nett!‘, ‚Wie interessant!‘ und so weiter, ganz aufrichtig gemeint sind – nur um des moralischen Eindrucks meiner Geschichte sicher zu sein. Also:

Wir waren etwa ein halbes Jahr verheirathet, mein Mann hatte den Ruf als außerordentlicher Professor nach B .... angenommen und arbeitete mit unausgesetztem Eifer an einem größeren wissenschaftlichen Werk, das ihm, wie wir wünschten und hofften, den ‚Ordentlichen‘ einbringen sollte. Das nahm ihn ganz in Anspruch. Ich war auf dem Land aufgewachsen, hatte von dem, was man ‚Plaisir‘ nennst, nie viel kennengelernt und fand es ganz selbstverständlich, daß auch in der Stadt mein Leben still und abwechslungslos weiter verlief. Auch war ich, wie gesagt, jung verheirathet – Wirthschaften und Haushalten hatte noch ganz den Reiz der Neuheit, nebenbei kam mir wohl so ein bißchen der Stolz auf meinen gelehrten Gatten zu Hilfe, dem bei seiner Arbeit für Eitelkeit und Tand keine Gedanken übrig blieben.

Kurz, ich hätte fast vergessen, daß ich neunzehn Jahre alt war. Wenn es mir noch in den Füßen unruhig wurde bei einem hübschen Walzer oder flotten Galopp, den die nahe Wachtparade aufspielte, so hielt ich das für einen letzten Rest von Jugendleichtsinn, den ich, meiner Stellung als Professorenfrau gemäß, nicht schnell genug loswerden könne.

In dieser löblichen und vortrefflichen Verfassung war uns das erste Jahr unserer Ehe hingegangen, und es wäre auch wohl weiter so geblieben, wenn nicht durch einen äußeren Umschwung in unserem Leben sich auch eine Veränderung in mir vollzogen hätte.

Ein Bruder meines Gatten, auch seit kurzem verheirathet, ebenso lebenslustig und weltgewandt wie mein guter Mann ernst, zerstreut und zurückgezogen, wurde als Assessor an die Regierung nach B .... versetzt, und wie sich das von selbst versteht, entwickelte sich bald der lebhafteste und angenehmste Verkehr zwischen beiden Häusern. Meine Schwägerin Anna, eine bildhübsche elegante Offizierstochter von sehr lustigem Temperament, hatte die Verhältnisse bei uns bald überschaut. Sie nöthigte mir in den ersten acht Tagen unseres verwandtschaftlichen Zusammenlebens eine Ponyfrisur auf und einen anderen Hut – freilich, ohne daß es mein guter Mann auch nur sah und merkte, was mich recht verdroß – und versicherte uns beiden bei jeder Gelegenheit, es sei ein Jammer und ein Skandal, daß wir uns hinter Folianten und Tabaksqualm verschanzten, daß ich wie eine Nonne leben müßte – mit neunzehn Jahren wolle man Menschen sehen und sich auch sehen lassen.

Mein Mann wies aber jedes Ansinnen, sich in die Geselligkeit zu stürzen, erst scherzend, dann so ernsthaft zurück, daß ich

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 209. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_209.jpg&oldid=- (Version vom 28.8.2020)