Seite:Die Gartenlaube (1893) 223.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Junker Ludwig mußte hier unter die Kinder, so wenig das auch dem kräftig aufgeschossenen Jungen behagte. Fräulein Polyxene guckte erst noch einmal durch die Scheiben der Thür und sah, wie er der kleinen Gesellschaft eingereiht wurde, dann trat sie durch die nächste Thür bei den zur Erbauungsstunde versammelten Damen ein.

Zu spät kam sie nun einmal, aber Verlegenheit und Schuldbewußtsein deswegen zu zeigen, lag nicht in Polyxenens Natur. Sie schritt erst mit ihrem leichten sichern aufrechten Gang hinter der einen Sesselreihe hin bis in die Nähe der vorsitzenden Obersthofmeisterin und machte der eine gefällige wohlabgemessene Verbeugung und dann nahm sie ihren Platz zwischen Fräulein von Motz und Frau von Biberen ein, beide freundlich begrüßend.

„Sehr glücklich, Sie noch zu sehen, liebe Leyen,“ sagte Frau von Biberen, die niemand etwas schenkte. „Wissen Sie auch, daß Sie einen großen wichtigen Theil der heutigen Erbauung versäumt haben?“

„Ist schon so viel gelesen? Da hätte ich wohl besser gethan, gar nicht mehr einzutreten,“ meinte Polyxene, mit einem Anflug von Schalkheit und der Miene eines großen Schulmädchens. Sie setzte sich ehrbar zurecht, zog aus einem großen seidenen Retikül, den sie am Arme getragen hatte, ihre Arbeit, wurde aber zunächst von Fräulein von Motz flüsternd um Hilfe angegangen von wegen des unglücklichen Aermelsitzes. Und jetzt begann auch die Obersthofmeisterin ein neues Kapitel, so daß die beiden jüngern Damen wenigstens vollauf zu thun hatten, ihre Aufmerksamkeit schicklich zwischen dem frommen Werke ihrer Hände und dem geistlichen Ohrenschmause zu theilen. –

Und die Frau Pfalzgräfin? Der erhöht stehende Sessel mit der Krone hinter der lesenden Obersthofmeisterin blieb heute leer, Herr Wendel hatte richtig vermuthet. Die Frau Fürstin befand sich indessen im Hauptbau des Schlosses im blauen Kabinett und nahm den Vortrag ihres Landforstmeisters, des Herrn von Nievern, entgegen. Kabinett hieß das hohe stattliche Gemach nach Versailler Muster. Welcher westdeutsche Hof hätte sich wohl damals, im Jahre 1716, dem Einflusse des französischen entzogen! Der Birkenfeldsche insbesondere folgte ihm aus der Entfernung wie ein Planet bescheidener Größe der Sonne; es war schon zu Lebzeiten des Pfalzgrafen so gewesen, und seine Witwe blieb um so mehr in diesem Geleise, als es kaum irgend etwas gab, was ihrer Natur besser entsprochen hätte als diese Art Nachahmung aus der Ferne, wobei der weibliche Eigenwille doch noch freien Spielraum behielt.

Sie war kein übles Weibchen, Frau Sabine Eleonore; auch eine Pfälzerin, aus der Veldenzer Linie des Hauses. Recht hübsch auf den ersten Blick, nur daß das glatte Gesicht vielleicht allzuglatt war. Ein Puppenmäulchen, zu kurzes und zurückweichendes Kinn und ebensolche Stirn, und hohe schwache Augenbrauen, das waren die Mängel, die aber meist nur der merkte, der von den leuchtenden Farben des Antlitzes, des Halses und der Arme nicht geblendet wurde. In ihrer ersten Jugend war dieser Schmelz ein echter und großer Reiz der Pfalzgräfin gewesen; jetzt half die Kunst ein wenig nach, aber es war doch auch noch viel vom Eigenen da. Daß sie deshalb an Schönheit mit allen Göttinnen des Olymps verglichen wurde, war die kleine Pfalzgräfin gewohnt und sie betrachtete das als einen schuldigen Tribut. Aber seltsam: der Mann, der jetzt in ehrerbietiger Haltung zwar, doch ohne alle Steifheit in einiger Entfernung von ihr mit seinen Papieren an einem Tischchen saß, hatte ihr fast niemals Huldigungen dieser überschwenglichen, wenn auch damals ganz gewöhnlichen Art dargebracht. Und trotzdem war die fürstliche Frau ihm nicht ungnädig gesinnt, ganz im Gegentheil. Er hatte ihr nämlich dennoch von jeher die Empfindung zu geben gewußt, daß kein Reiz ihrer Person an ihm verloren sei und daß er gewisse Feinheiten – der Toilette sogar – besonders zu würdigen wisse.

Heute trug Frau Sabine Eleonore graue Seidengewänder wie gewöhnlich – die Farbe paßte zu ihrem Witwenstand, und diese sanften und diskreten Halbtrauertöne waren auch zugleich diejenigen, welche während der kürzlich verflossenen letzten Jahre des großen Königs Ludwig die Herrscherin von Versailles, die Gattin seines frommen Greisenalters, die kluge Frau von Maintenon, stets beliebt hatte. Der viereckige tiefe Ausschnitt der steifen Taille ließ den Hals und den Ansatz des Busens frei; um die weiße Kehle aber war wieder eine schwarze Spitzenkrause gelegt. Und die Pfalzgräfin Sabine, deren französische Kammerfrau dieses letztere kleine Raffinement heute zum ersten Male angebracht hatte, hatte deutlich gesehen, wie im Anfang einmal, kurz nach seinem Eintritt, der Blick des Herrn von Nievern auf dem Stückchen Hals zwischen dem Kleiderausschnitt und der schwarzen Krause wenn auch ohne Dreistigkeit, denn solche lag ihm fern, so doch immerhin mit einer gewissen Billigung geruht hatte.

Etwas mehr als ein solcher Blick wäre hier ganz undenkbar gewesen, denn es ging bei diesen Vorträgen, die der jugendliche Landforstmeister seiner Herrin von Amtswegen hielt, mit fast steifem Dekorum zu. Aber freilich konnte er, wenn er wollte, schon darin eine leise Gunst seiner Landesherrin spüren, daß er diese Vorträge überhaupt zu halten berufen wurde. Denn es war noch nicht lange her, daß sich die hohe Dame für das Forst- und Domänenwesen ihres Ländchens interessierte; eigentlich erst, seit diese Zweige der Verwaltung in den Händen des Herrn von Nievern ruhten, von ihm übrigens weit ernstlicher gepflegt wurden, als man es dem sorglosen Hofkavalier zugetraut hätte. Herr von Nievern hatte kürzlich eine kleine Inspektionsreise nach der Kur-Trierschen Grenze hin gemacht, um ein altes Jagdschloß, Hubertstein, welches die Birkenfeldschen Pfalzgrafen dort besaßen, der Besichtigung zu unterziehen und in jener abgelegenen gebirgigen Gegend den Zustand der Waldungen zu prüfen. Darüber erstattete er jetzt Bericht.

Pfalzgräfin Sabine Eleonore saß sehr gerade und aufrecht in ihrem Sessel – eine andere Haltung hätten die Fischbeine in ihrem Kleide schon gar nicht gestattet – hatte den einen weißen Arm, den vom Ellbogen an nur noch zarte Spitzen bedeckten, aufgestützt und verhielt sich wenigstens so ruhig, als ob sie aufmerksam zuhörte. Herr von Nievern gab bündige Vorschläge, eine nothwendige Aufforstung der Waldungen betreffend, und schloß dann auf einmal, die Hand mit dem Papier sinken lassend und die hübschen Augen auf die Dame gerichtet: „Was ich Pfalzgräflicher Hoheit gehorsamst unterbreitet haben wollte. Sind Hoheit mit meinen Vorschlägen einverstanden?“

So unmittelbar befragt, konnte die hohe Dame es nicht völlig bergen, daß ihr die Stimme des Herrn von Nievern nur mehr die angenehme Begleitung zu einer Reihe ebenfalls nicht unangenehmer Gedanken gewesen war und daß sie kaum wußte, wovon die Rede sei. Ganz überraschend war dem Landforstmeister die Sache nicht, denn trotz seiner gesetzten Miene schoß ihm ein Blick leisester Schalkheit aus den Augen. Und der traf, halb zufällig, auf ein anderes Augenpaar und wurde verstanden. Es war nämlich noch eine Person mit den Zweien im Gemach, eine etwa dreißigjährige fahlblonde Frau, nicht häßlich, aber mit einem nonnen- oder witwenhaften Anflug in Kleidung, Haltung und Miene. Sie hielt die hellen Wimpern meist gesenkt, und doch hatten sich, als Herr von Nievern eben halb belustigt über die Zerstreutheit der fürstlichen Dame aufblickte, ihre Augen und die des Kavaliers sekundenlang getroffen in jenem plötzlichen unwillkürlichen Einverständniß über die andere Person hin, welches zwei Klügere gegen einen Dritten auf Augenblicke zu Verbündeten macht.

Herr von Nievern hatte sie vorher kaum angesehen. Zum Teufel, dachte er jetzt, dumm ist die wenigstens nicht, und er musterte die bescheidene Dame nun erst aufmerksam. Sie sprach indessen zur Fürstin, und er hatte Ursache, bei seinem Urtheil zu bleiben: dumm ist sie nicht, ganz im Gegentheil! Denn sie faßte mit großem Geschick noch einmal kurz zusammen, was der Landforstmeister vorgetragen und worüber er eine Entscheidung von der Pfalzgräfin gewünscht hatte. Sie ihrerseits hatte ihm gut zugehört; es schmeichelte ihm förmlich, wie genau sie wußte, was er gesagt hatte. Er wendete ihr das hübsche Gesicht jetzt voll zu und – nur ein Herr von Nievern erlaubte sich so viel in fürstlicher Gegenwart – und nickte leicht seinen Beifall. Sie achtete nicht darauf; den ehrerbietigen Blick ausschließlich auf die Fürstin geheftet, fuhr sie fort: „Meiner Unerfahrenheit und meinem geringen Verstande in weltlichen Dingen bitte ich es zugute zu halten, wenn ich den Herrn Landforstmeister nicht völlig verstanden habe; ich habe immer viel Nachsicht nöthig. Der Scharfsinn Pfalzgräflicher Hoheit, der alles sofort zu durchdringen pflegt, wird uns zu Hilfe kommen.“

„Schmeicheln Sie nicht, liebe Méninville,“ sagte Frau Sabine Eleonore, aber mit sehr wenig ernstlicher Abwehr. Und dann zu Herrn von Nievern: „Wir sind sehr mit Ihnen einverstanden, Herr Landforstmeister, darin, daß unsere Waldungen wieder in die Höhe gebracht werden müssen. Und Sie haben Vollmacht von uns, die Beforstung um Hubertstein herum in der von Ihnen vorgeschlagenen Weise vorzunehmen. Lassen Sie sich, ich bitte, die dazu nöthigen Beträge von der fürstlichen Rentkammer auszahlen. Eine schriftliche

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 223. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_223.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2020)