Seite:Die Gartenlaube (1893) 228.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Dieser Text wurde anhand der angegebenen Quelle einmal korrekturgelesen. Die Schreibweise sollte dem Originaltext folgen. Es ist noch ein weiterer Korrekturdurchgang nötig.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Polyxene nickte ihrerseits nach dem Gestirn hinüber. „Der Nebel verheißt einen guten Tag,“ meinte sie, „aber ich fürchte, die Sonne wird höher sein, als uns lieb ist, ehe wir unsern Platz gewinnen. Wenn wir nur zum Schusse kommen!“

„Ja, wer hat denn beim Rüsten auf sich warten lassen, ich oder Du?“ rief der Knabe. „Fahr zu, Dietlieb!“ Der stellte sich im Wagen aufrecht und feuerte durch Zuruf die knochigen Gäule an.

Sie durchschnitten ein paar elende obere Gassen des am Berge gelegenen Dorfes. Aus den Thüröffnungen seiner baufälligen Hütten schauten ihnen einzelne der Bewohner nach, meist hagere struppige Weiber, mit dem stumpfen, leer verweilenden Blicke des Viehes eher als mit menschlicher Neugier oder menschlichem Antheil. Und Polyxenens Auge glitt klar und heiter und ebenso unbewußt über sie hin wie der Sonnenstrahl über den Stein; sie hätte niemals daran gedacht, sich diesen Menschen zu nahen, die ihr, die den Vornehmen überhaupt unendlich viel ferner standen und unbekannter waren als ihre Jagdhunde und Pferde.

Jene lückenhaften Reihen schmutziger Lehmhütten ließ der Wagen bald hinter sich; er arbeitete sich jetzt ziemlich steil hinauf auf dem alten Kirchweg, wie ihn Polyxene vorhin bezeichnet hatte. Es war eine Straße, die seit langem nicht mehr in stand gehalten wurde, nach einem Kirchlein führend, das nicht mehr da war. Nur ein offenes Mauerwerk stand noch am Abhang, von dessen Innenraum Gesträuch Besitz genommen hatte, denn dies Gotteshaus war vor mehr als zwei Menschenaltern im großen Kriege als ein papistischer Greuel von den Schweden zerstört worden.

Jetzt erbarmte es die jungen Herrschaften nachgerade der Pferde, da der Boden moorig und bruchig wurde, vom Wege auch kaum mehr eine Spur vorhanden war. „Halt, Dietlieb!“ rief Polyxene mit ihrer frischen herrischen Stimme, „wir steigen aus!“

Im Nu waren sie beide vom Wagen, hatte Ludwig die Gewehre heruntergeholt und hingen ihnen diese über den Schultern. Nach kurzer Weisung entließen sie den Mann mit dem Wagen. Er sollte Fuhrwerk und Pferde im Dorfe unterbringen und ihnen dann nachkommen, mit einem Buben des Herbergshalters dort, um die Jagdbeute hinabzutragen.

Nun stiegen sie rüstig allein weiter und bald hatten sie die Stelle erreicht, wo sie, in eine Vertiefung geduckt und hinter dicken Heideknollen verborgen, die Rückkehr ihres Wildes ins Dickicht – denn herausgetreten war es beim frühesten Morgengrauen – belauern wollten. Es war eine muldenartige Vertiefung im Boden, trocken und reinlich, denn die unzähligen Thaudiamanten, die an den Moosen und Flechten glitzerten, waren ein oberflächliches Naß, welches die Sonne bald auflecken würde. Vorn hatte Ludwig die Heidepolster noch mit verschränkten Kieferzweigen zu einer Art Brustwehr erhöht, und dahinter konnten sie nun sitzen wie in einem behaglichen Nestchen, horchen auf allerhand Vogelstimmen, Auslug halten nach ihrem Wilde, das sie, wenn es sich die Höhe heraufzog, langsam und sorglos, wie die Thiere hier waren, lange genug aufs Korn nehmen konnten, um prächtig zum Schusse zu kommen.

Ehe sie sich’s aber in ihrer offenen Höhle bequem machten, meinte Polyxene: „Es ist noch Zeit; laß uns nach der Fährte sehen, Lutz!“ Und sie zogen lautlos, eines hinter dem andern her, noch einige hundert Schritte am Waldrand entlang bis zu einer Art Einbuchtung in den Forst. Das war die Stelle, wo das Wild zu wechseln pflegte. Wassergeäder von der Höhe durchsickerte hier den grünen Boden, so daß es feucht um den auftretenden Fuß aufquoll. Deutlich waren die Fußspuren des Wildes auf dem flach bewachsenen Grunde sichtbar.

Polyxene stand und stand, den hübschen Kopf gebückt über dem Boden. Plötzlich packte sie den Vetter am Arm und zeigte mit der andern Hand starr auf einen Fleck. Auch er bückte sich tiefer – es war eine Schweißspur. Kamen sie zu spät? Wer hatte vor ihnen hier zu pirschen gewagt? Mit einem Male sprang Polyxene vor und stieß einen leisen leidenschaftlichen Ruf aus. Gleich war Ludwig an ihrer Seite; ihrem Blicke folgend, gewahrte er, was sie sah ... die mächtige runde Fährte, schnurartig gereiht, da, da und da und dann – die beiden jungen Verwandten, die sich nun ohne Worte verstanden, eilten vorwärts – erst hier wieder, wohl sechs Ellen weiter ... daran erkannten sie ihn, den wildesten und gierigsten Räuber, den diese Einöden bargen. Er war das erste Mal fehlgesprungen, als er von seinem Versteck auf dem breiten mannsdicken Aste der einzelnen Eiche dort sich auf sein Opfer gestürzt hatte. Dann aber, mit einem Riesensatz, hatte er dasselbe doch noch erreicht und niedergerissen.

Der Knabe und das Mädchen sahen einander an, mit Blauaugen, in denen es sprühte über die Entdeckung. „Ein Luchs,“ wisperte Lutz. Sie nickte stumm, und nun verfolgten sie die rückwärtsführende Fährte. Es war nicht schwer; das Wild war von dem Räuber eine Strecke weit geschleift worden, das verrieth die Spur. Dann hier eine tief eingedrückte Stelle im feuchten Boden – hier hatte er sich an dem Blute des Thieres gütlich gethan und seine Mahlzeit gehalten, bei der er, wählerisch wie er war, sich auf die besten Bissen beschränkt und das übrige wahrscheinlich den Füchsen überlassen hatte. Richtig, dreißig Schritte weiter lag ein Hinterlauf und das traurig zernagte Köpfchen des Bockes mit dem zierlichen Gehörn; herausgefressen war sogar das Hirn von gierigen spitzen Schnautzen.

Die beiden Leyens standen noch, betrachteten das alles und ließen sich kein Anzeichen entgehen, auch das kleinste nicht, bis die Sonne die Wipfel der nächsten Bäume erreicht hatte und jetzt ihr Licht rasch tiefer herab sich verbreitete und zu herrschen begann. „Zum Schusse kommen wir heute nicht mehr, Ludwig,“ sagte Polyxene endlich in bitterer Enttäuschung. „Der Luchs hat unser Wild versprengt; hierher wechseln sie sobald nicht wieder. Jetzt heißt es, von neuem einen Platz auskundschaften.“

„Und das sollte dem vermaledeiten Diebe so hingehen?“ rief da der Knabe. „Jetzt, wo wir seine Spur haben? Komm, Polyxene, laß uns der Fährte folgen, so weit wir nur können ... Du hilfst suchen, Dein Auge ist scharf.“

„Er ist von Baum zu Baum gekommen,“ sagte Polyxene überlegend. „Wer weiß, wo er zuvor auf dem Boden gewesen ist und wie weit von hier. Heute fänden wir die Spur schwerlich. Und jetzt hat er sich schon wieder verkrochen, denn er geht nur in der Nacht heraus, das habe ich vom alten Strieger,“ fuhr sie fort. „Unter Tags liegt er im Geklüft und Geschlüft. Und ich dächte, das wilde Felsgestein links unter dem Heidenkopf wäre so recht ein Schlupfwinkel für diesen und seinesgleichen.“

„Da magst Du recht haben,“ rief der Knabe lebhaft. „Und der Strieger, der soll uns auf die Spur helfen. Daß ich nicht gleich an ihn gedacht habe!“

„Strieger weiß, wo der Luchs liegt, so gut wie er weiß, wohin er selbst abends seinen borstigen Graukopf zu legen hat,“ meinte auch Polyxene und lachte dabei leise vor sich hin. – Strieger war der alte Waldwart, von dessen Mangel an jeder höflichen Rücksicht, selbst gegen Kavaliere des fürstlichen Haushalts, Herr von Nievern die Pfalzgräfin unterhalten hatte, „Aber was hilft uns das alles? In der Nacht, da allein dem Räuber beizukommen wäre, können wir nicht hinaus. Wir müssen es dem Strieger überlassen, ihn abzuschießen, wann er es für gut hält.“

„Der alte Murrkopf,“ rief Ludwig unzufrieden, „der immer anders will, als man ihn bedeutet! Nein, den Luchs schieß’ ich!“ Die hübsche derbe Knabenhand schloß sich um die Büchse und die Augen leuchteten. „Ich getrau’ mich wohl, einmal eine Nacht hier draußen zu bleiben – nach dem Abendbrot schleich ich mich fort – der Oheim soll es schon nicht merken.“

„Nein, Lutz, daraus wird nichts,“ sagte Polyxene mit ruhiger Bestimmtheit. Sein Gesicht wurde lang, bis sie hinzufügte: „Allein kommst Du mir in der Nacht nicht hinaus!“ Einen Augenblick stand er zweifelnd, und dann jauchzte er beinahe: „Du gehst mit, ich seh’ Dir’s an! Wann, Polyxenchen, wann? Wieviel Wild soll er sich erst noch holen?“

„Laß nur – auf einen Rehbock mehr oder weniger kommt es nicht an. Wir führen das Stückchen nicht eher aus, als bis wir ihn völlig ausgekundschaftet haben, all seinen Weg und Wandel, und dann haben wir ihn. Das können wir aber nicht ohne den Strieger.“

„So laß uns ihn aufsuchen,“ drängte Lutz.

„Wir finden ihn nicht daheim,“ wandte Polyxene ein. „Komm!“ fuhr sie überredend fort und nahm ihn leicht beim Arme, „noch haben wir Zeit; wir pirschen uns lieber sachte hier quer durch die Tannen, so daß wir drüben auf der Blöße herauskommen; wer weiß, ob uns nicht doch noch etwas vor den Schuß kommt.“

„Es muß immer alles gehen, wie Du willst, Polyxene,“ sagte der Junge, willig, aber doch einen Blick des Bedauerns hinter dem Luchsabenteuer herschickend. Polyxene widersprach seiner Behauptung nicht gerade und mochte denken, daß das auch wohl in der Ordnung sei.

Nach Jägerart durchschritten sie nun hintereinander auf leisen Sohlen den Tann. Keine forstmäßig gereihten Fichtenzeilen gab

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 228. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_228.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2020)