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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

oder führen harmlose Wortgefechte, die regelmäßig mit einer allgemeinen Lachsalve endigen. Lose Burschen bauen wohl inzwischen die Hausthür mit einer Schneemauer zu, daß die Spinnerinnen und Strohflechterinnen den Heimweg verlegt finden, oder spielen „Gescheeche“ an den zugefrorenen Fenstern, um die Gesellschaft da drinnen „grufeln“ zu machen. Und daß die Liebe dabei sich gar nicht um das rauhe Klima kümmert, sondern auch hier ihre Rosen zeitigt, versteht sich ja wohl von selbst.

Der Müglitzthalbahn ist schon am Fuße der Kamm-Erhebung vom vielen Steigen der Athem ausgegangen, sie hat sich nicht entschließen können, den Kamm zu erklimmen; wir müssen uns daher auf die Beine machen und zu Fuß die Hochebene überschreiten, wo wir die Dörfer Fürstenau und Voitsdorf berühren. Auf böhmischem Grunde, nicht fern von der Grenze, erhebt sich ein mäßiger Hügel, der Mückenberg, und auf ihm ein großer hölzerner Bau, das Mückenthürmchen. Von der Seite, von der wir heranwandern, sieht es eigentlich nach gar nichts aus, man vermuthet einen jener zahlreichen in den letzten Jahren entstandenen Aussichtsthürme ohne Aussicht. Aber wie verblüfft bleibt man stehen, wenn man mit einem Schlage den ganzen weiten Bielathalkessel von Brüx, Dux und Teplitz herab bis nach Aussig und dem Schreckenstein an der Elbe liegen sieht!

Der ortskundige Sachverständige würde hier vortreten und sagen: „Das, meine Herren, sind die bizarren Schuttkegel des böhmischen Mittelgebirges mit dem weltberühmten Milleschauer, dem schon Alexander von Humboldt ein großes Loblied gesungen hat; hier können Sie den Lauf des Elbstroms in den schluchtartigen Einbuchtungen der imposanten Basaltgruppen verfolgen, wie er sich dann durch das Elbsandsteingebirge klemmt und endlich, gegen Norden gesehen, die deutsche Tiefebene gewinnt. Zu Ihren Füßen fällt der südliche Steilhang des Erzgebirges ab, gegen Osten hin schiebt sich dieses in immer großartigeren Bergmassiven gegen das böhmische Tiefland vor. Die weite Thalsohle mit den Tausenden von Schornsteinen ist eins der großartigsten und ausgiebigsten Braunkohlenbecken der Erde, und wenn Sie Geschichte haben wollen, so sehen Sie sich die zahlreichen Ruinen, Klöster und Schlösser an! Oder wünsche Sie Fernsichten? An hellen Tagen soll indigoblau der Isarkamm, der Böhmerwald, das Riesengebirge und sogar der Kreuzberg bei Berlin und der Weiße Berg bei Prag sichtbar sein!“

Das Mückenthürmchen.

Aber so ganz klare Tage soll es sehr selten oder auch noch nie gegeben haben, und das ist gar kein Schade! Mit dem Suchen nach den Einzelheiten verliert man meist den Gesamteindruck und bezahlt damit die kleinen Gewinne sehr theuer. Wer zerschneidet gern ein Gemälde von Meisterhand in seine Theile!

Fast großartiger noch als der landschaftliche ist der geschichtliche Ausblick von diesem Mückenberge aus. Böhmen ist, wie ich es bereits nannte, der „klassische Boden der Schlachtfelder“, hier ist Blut geflossen für den Glauben, für dynastischen Hader, für die Rasse, für die Jesuiten, für die Freiheit, für den Papst und für den Huß, für den Ehrgeiz und – für nichts!

Ein guter Theil dieser Schlachtfelder liegt in unserem Gesichtskreis. In der Tiefe, fast zu unseren Füßen, links von Teplitz erhebt sich ein mäßiger Hügel, „Bihana“, auch „Bihanj“ geheißen. Seine freundlichen, ziegelbedachten weißgetünchten Meierhöfe, seine wohlangebauten Fluren schimmern jetzt so friedlich herauf, daß wir Mühe haben, in ihm eine der blutigsten Wahlstätten zu sehen. Hier wurde im Juni 1426 die furchtbarste aller Hussitenschlachten geschlagen. unter einem Busso von Vitzthum waren die Meißner Heervölker vom Mückenberg herabgestiegen, um für des Papstes Herrlichkeit die Hussiten zu bekriegen, die unter Korybut von Prag an der Biela ein Lager geschlagen hatten, Die waffengeübten, geharnischten Meißner glaubten, ein leichtes Spiel mit den Hussiten zu haben, die ja eigentlich nur Bauernheere waren, Sie hatten sich schwer geirrt; wohl trugen die Hussiten keine Harnische, dafür aber hatten sie ihre Brust mit glühendem Haß gepanzert. Mit Sensen und Dreschflegeln stürmten sie auf die Gegner ein, und als die Sonne hinter den Kamm des Erzgebirgs hinabsank, lagen 16000 Erschlagene äuf dem Hügel Bihana. Der Rest der Meißner rettete sich über den Mückeberg in die festen sächsischen Städte.

Ehe wir die blutigen Spuren der Geschichte von unserer hohen Warte aus weiter verfolgen, sei ein freundlicheres Bild eingestreut! Unfern der Biela bei Staditz liegt auf einer kleinen Anhöhe ein merkwürdiges Denkmal; kein Reiter, keine Menschengestalt ist darauf zu schauen, sondern – ein Ackerpflug! Man nennt es das „Pschemysl-Denkmal“; es verewigt eine Sage oder eine mit sagenhaften Zügen durchsetzte Geschichte von wahrhaft patriarchalischer Einfalt und Großartigkeit: Libussa, die ebenso schöne als kenntnißreiche und gütige Gründerin von Prag, sitzt zu Gericht über einen böhmischen Großen, Ihr gerechtes Urtheil dünkt ihn ungerecht, er schilt sie ein Weib mit langem Haar und kurzen Sinnen und will lieber sterben, als noch für der einem Weibe dienen. Seine Standesgenossen dringen in Libussa, doch endlich aus ihrer Mitte einen Gemahl zu wählen, und obwohl schwer gekränkt, entschließt sie sich dennoch endlich, dem Wunsche der Großen stattzugeben. Voll Unruhe harren diese dem Morgen entgegen, an welchem die vielumworbene Fürstin einen Gatten aus der Mitte der Edelleute wählen soll. Libussa ersteigt in der Nacht vorher einen hohen heiligen Berg und befragt bekümmerten Herzens die Göttin Klimba, was sie thun soll. Diese antwortet:

„Auf, wohlauf, Libussa, steige nieder,
Hinterm Berge dort an Bielas Ufer
Soll dein weißes Roß den Fürsten finden,
Der Gemahl dir sei und Stammes Vater,
Fährt da emsig mit zwei weißen Stieren,
In der Hand die Ruthe seines Stammes,
Und hält Tafel da auf eisern’m Tische.“[1]

Das weiße Roß Libussas übernimmt wirklich den Führerdienst und geleitet die Gesandten der Königin nach jenem Acker an der Biela, der heute das Denkmal trägt. Ein schlichter Landmann führt gedankenvoll seinen Pflug und treibt mit einer Haselgerte seine Stiere an. Voll Erstaunen, daß ein so Geringer König von Böhmen und der Gemahl der schönen Libussa werden soll, rufen ihn die Edelleute an – er aber hört anfänglich nicht und pflügt stolzen Sinnes weiter. Als sie ihm die Krone reichen und ihm den Fürstenmantel überwerfen, zürnt er ihnen, daß sie ihn seinen Acker nicht zu Ende pflügen lassen. Endlich geht Pschemysl – so hieß der Landmann – auf ihre Wünsche ein, steckt seine Gerte ins gelockerte Erdreich und siehe, augenblicklich grünt und blüht sie vor den Augen der verwunderten Magnaten auf zu einem Haselstrauch.

Und Pschemysl, der Denker ... kehrt den Pflug um,
Langet Käs’ und Brot aus seiner Tasche,
Heißt sie niedersitzen auf die Erde,
Legt die Mahlzeit auf den Pflug mit Eisen:[2]
„Haltet denn mit Eurem Fürsten Tafel!“

Die Großen fragen:

„Herr, wozu der sondre Tisch von Eisen?“

Pschemysl antwortet:

„Und Ihr wisset nicht, auf welchem Tische
Stets ein König isset? Eisen ist er.“ –
Damit stand er auf und stieg aufs schöne
Weiße Roß, das scharrt und triumphieret.

Die Großen legen ihm jetzt Fürstenschuhe an und wollen

  1. Aus Herders „Stimmen der Völker in Liedern“
  2. Es ist noch heute zuweilen üblich, daß die Pflüger den Pflug umkehren und die stets blanke Unterfläche der Pflugschar als eine Art Tisch benutzen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 258. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_258.jpg&oldid=- (Version vom 24.11.2020)