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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Todeswunde, eine kleine Wunde nur, wie ein blutiger Mund; dahin hatte ihn das Geschoß eines Jagdgenossen aus Versehen getroffen. Und es war dieselbe Stelle, die ich Euere Mutter hatte küssen sehen. Da mit einem Male waren meine Thränen getrocknet. Unaussprechliche Freude erfüllte mich. Ich wußte nun, daß Euere Mutter sich den Gatten von Gott erbeten hatte. Er war gerettet worden vor den Listen des Teufels, der ihn tiefer und tiefer zu verstricken gedachte, und entrückt, um jenseit dieses armen Lebens vollendet zu werden.“

Erschüttert hatte Polyxene zugehört, unwillkürlich die Hände faltend; jetzt rannen langsam große Thränen über ihre Wangen, die sie erst merkte, als sie ihr auf die Hände tropften. Sie war völlig verwaist seit jenem Tage und arm, da das Majorat an die andere Linie übergegangen und sonst kein Besitz dagewesen war. Aber wie hätte sie jetzt daran denken sollen! So waren auch ihre Thränen nicht bitter, sondern erleichternde Thränen der Wehmuth. Unsäglich traurig war ihr, seit sie heranwuchs, der Gedanke gewesen, der Vater, wie er ihr geschildert wurde, könne etwa hart gegen die zarte Mutter gewesen sein. Nun war dieser Schatten einer sanften Lichtfluth gewichen, die wie Abendsonnengold aus dem Jenseits brach, Polyxene wußte nun: der Vater und die Mutter waren irgendwo zusammen; inniger vereint, als sie hier auf Erden gewesen waren.

„Ich danke Euch,“ sagte sie denn auch zunächst zu derjenigen, der sie Wohlthaten zu erweisen gedacht hatte, „Ihr habt mir Gutes gethan, wie es kein Mensch auf Erden außer Euch vermocht hätte, denn niemand wußte diese Dinge als Ihr. Und soll ich dagegen Euch gar nichts erzeigen können? Ist Euch nicht jetzt doch vielleicht ein Trunk gefällig zur Erquickung?“ Und das innig bewegte Herz lehrte sie mit einem Male, was hier noth sein möchte, so ungewohnt sie der Wartung Kranker auch war. „Soll ich den Wein, den ich mitgebracht habe, mit Wasser verdünnen? Er ist vielleicht zu stark für Euch, da Ihr desselben nicht gewohnt seid. Und mögt Ihr ein wenig Brot? Ich habe gutes weißes Brot hier,“ sagte Polyxene, hing den Kopf und begann in ihrem Körbchen zu kramen, mit einem Erröthen, das der Stolzen gar lieblich stand.

„Euer guter Wille wirbt für Euch bei dem Herrn,“ sagte die Kranke tiefsinnig. „Er wirbt für Euch mit meinem Gebet zusammen. Ich hoffe, Ihr seid erwählt. Euch zuliebe würde ich kosten, was Ihr bringt, aber ich vermag es nicht. Ueber meine Lippen ist schon seit langem nichts anderes gegangen als die Milch meiner Ziege, welche Strieger allabendlich für mich melkt. Damit fristet mich Gott auf schier wunderbare Weise. Früher brachte mir der Alte zuweilen Fleischkost, Wild aus dem Forste, und bereitete diese hier. Ich aß arglos davon. Da ich aber merkte, daß er sich in seiner rauhen Art freute, die Herrschaft um das zu schmälern, was wir also genossen, da verschloß Gott meinen Mund dagegen mit einem gewaltigen Ekel. So bewahrte er mich vor der Sünde, mich und auch den alten Mann, der mir treu ist, mit einer Treue, die bei Menschen selten gefunden wird.“

Indessen war die Dämmerung draußen herabgesunken, Bei dem sinkenden Lichte nun schien es Polyxene, als gehe eine Veränderung mit dem siechen Weibe vor. Die Gestalt schien sich steifer, länger auszustrecken, das Gesicht nahm einen noch fremdartigeren gespannten Ausdruck an. Es erschien wie das einer Horchenden. Hörte sie Töne aus einer anderen Welt? Eine leise ängstliche Frage, mit der Polyxene sich zu ihr neigte, wurde offenbar nicht vernommen. Nun aber sprach die Kranke wie mit Anstrengung, als ob ihr etwas Ueberwältigendes den Athem benehme: „Geht jetzt, geht ... verzieht nicht länger ...“

Da klagte Polyxene: „Ich kenne Euch nun und fürchte mich der Sünde, Euch ferner so hilflos allein zu lassen.“

„Ich bin nicht allein –“ die Kranke keuchte die Worte mit leiser Stimme, während ihre Augen starrten und glänzten. Nicht allein, wenn Polyxene ging? Wer war denn da? Dem Fräulein grauste, sie sah sich scheu um; es legte sich auf sie wie der Druck einer unsichtbaren mächtigen Gegenwart, Aber sie kämpfte noch mit ihrer Furcht; erst als die Frau noch einmal heiser und dringlich flüsterte: „Geht – Ihr beraubt mich, wenn Ihr noch verweilt!“ da floh sie wie gejagt von dem zwingenden Blick jener Augen.

Draußen dämmerte es, und unsäglich öde und traurig sah es in der kahlen Schlucht aus, Dennoch zögerte Polyxene vor der Thür. Wenn es der Tod war, der eben drinnen Einkehr gehalten hatte? Sie neigte mit gepreßtem Herzen das Ohr zur Thür des Häuschens. Drinnen hörte sie eine Stimme, und während ein nie gekannter Schauer über ihren Leib lief, lauschte sie, ob es die Stimme der Kranken sei. Jetzt unterschied sie einzelne Worte. Die Frau betete, oder vielmehr: sie sprach mit dem Gottessohn, als sei er leibhaftig bei ihr.

Unschlüssig, wie sie selten war, machte Polyxene einige Schritte um die Hütte herum. Und da – schreckhaft war sie nicht bei wirklichen Dingen, welche die Sinne wahrzunehmen vermochten, sonst wäre sie jetzt entsetzt zurückgefahren – da gewahrte sie eine menschliche Gestalt in nächster Nähe. Sie richtete sich höher auf, ihren Muth zusammennehmend, und spähte scharf in die Dämmerung hinein, wenige Augenblicke nur, dann athmete sie erleichtert auf – der alte Strieger stand vor ihr. Er kam vom Ziegenstall her und hielt ein Gefäß in der Hand. Gleichmüthig grüßte er das Fräulein; was er von Genugthuung empfunden haben mochte über ihren Besuch hier, das hatte er schon meistern können, denn er war seit einiger Zeit in der Nähe, wie allabendlich, und wußte um ihre Gegenwart.

Polyxene dagegen trat hastig auf ihn zu. „O, wie froh bin ich, daß Ihr da seid,“ sagte sie unverhohlen. „Die kranke Frau drinnen – ich verstehe so wenig ... ich glaube, ihr letztes Stündlein ist da. Und doch wollte sie mich nicht mehr bei sich leiden.“

Bei diesen Worten hatte er sich betroffen aufgerichtet, Sie waren in der Nähe des Fensters, Er hob den Kopf und spähte und lauschte hinein. Dann meinte er trocken: „Nein, noch ist es soweit nicht, Hört Ihr nicht, wie sie Zwiesprach mit einem hält. Wir wollen hoffen, daß es einer von den Guten ist! So geht das häufig um diese Stunde ... dann muß auch ich mich so lange draußen verhalten und thue es willig genug.“ Nach einer Weile begann er wieder: „Das dauert manchmal stundenlang. Ihr könnt nicht so lange hier oben verweilen. Es wird Nacht, und da ist es hier draußen nichts für Euresgleichen. Wer hat Euch hergeleitet?“

Das sei der Diener Dietlieb gewesen, der harre ihrer im Dorfe bei der Kirche, gab das Fräulein zur Auskunft.

„So müßt Ihr Euch meine Gesellschaft bis ins Dorf hinunter gefallen lassen,“ entgegnete der Alte. „Kommt, Fräulein! Nein“ – da Polyxene zaudernd stand und nach der Thür der Hütte blickte – „gebt Euch nur zufrieden, heute und morgen stirbt sie noch nicht.“

Sein Blick fiel jetzt auf das Körbchen, das Polyxene noch immer in Händen hielt. Und zugleich besann sich auch das Fräulein auf die verschmähte Labung. „Ich hatte Wein mitgebracht und Brot,“ sagte sie und öffnete ein wenig den Deckel. „Die kranke Frau bedarf dessen nicht; so will ich’s Euch übergeben.“ Und sie hob den kleinen Krug heraus.

„Wein? Ja, den gebt nur her,“ meinte der alte Strieger, ohne sich viel zu zieren. Jetzt hielt er das Krüglein am Henkel, beschaute es mit Beifall, zog den Stöpsel und setzte den Hals an die Lippen zu einem langen langen Zuge. Als er den Krug sinken ließ, athmete er tief und die alten Augen funkelten wie Edelsteine unter den tiefen Höhlen hervor. „Bei Sankt Hubert, das ist ein Jahr Leben für einen Kerl wie mich, Fräulein! Nun, war’s mir nicht zugedacht, so laßt’s Euch deshalb nicht reuen. Euer Großvater hatte einen Saupacker – die ‚Furia‘ hieß er – den wollten sie erschießen, als er zur Hatz nicht mehr taugte. Da sagte der Freiherr Josias: ‚Laßt ihn, der Hund frißt mich nicht arm.‘ Er warf ihm sogar dann und wann einen guten Brocken zu, ’was Weichgekochtes, denn das alte Vieh hatte schier keine Zähne mehr. Dafür hat ihn der Hund, als er, ein weniges bezecht, auf der Heimkehr von Hippoltstein am Heidemoor zu Falle kam – Euer Großvater, meine ich – mit seinem zahnlosen Rachen emporgezerrt, gehalten und geschleift und dann Leute herbeigeholt. Und ohne den Rüden wäre der Freiherr Josias elendiglich im Moore und Moder erstickt und versunken auf Nimmerwiederfinden. Merkt Ihr was, Fräulein? Wer weiß, wozu der alte Strieger noch taugt!“

„Wenn der Wein Euch eine Stärkung ist in Eueren hohen Jahren, so sollt Ihr dessen nicht entbehren; das gedenk’ ich zu verantworten,“ sagte Polyxene, die mit einem Mal am Spenden Freude zu empfinden begann. Sie hatte ihm auch das Brot gereicht – der Aepfel schämte sie sich – und er brummte beifällig, stellte sein Gefäß mit Ziegenmilch und dann den Weinkrug neben die Thür auf die Steine und legte das Brot daneben. Und nun begannen sie miteinander durch die Schlucht hinabzusteigen.

(Fortsetzung folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 267. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_267.jpg&oldid=- (Version vom 12.10.2020)