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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ihn auf der Landungsbrücke erwartet hatten. Einer dieser Herren war mir bekannt; und er muß es gewesen sein, der mich dann wieder mit dem Lotsenkommandeur Friedrich Müller bekannt machte, nachdem die kleine Gesellschaft auf der Veranda in meiner Nähe sich niedergelassen, ein Glas Wein zu trinken.

Wer „Sturmfluth“ gelesen hat, weiß, daß dies der große, von mir so heiß ersehnte Augenblick war, in welchem mir auf die Fürbitte meiner lieben Heiligen der Held des Romans beschert wurde.

Außer gewissen anderen Eigenschaften, von denen wir alsbald zu sprechen haben werden, befähigte den Mann dazu auch seine Erscheinung, die ich, bereits ehe ich ihm vorgestellt war, mit Vergnügen beobachtet hatte: die Gestalt etwas über Mittelgröße, der man ihre Kraft und Geschmeidigkeit ansah; ein von einem braunen oder dunkelblonden Bart umrahmtes männlich schönes Gesicht, aus dessen offenen Zügen Entschlossenheit und Bravheit, Intelligenz und Herzensgüte sprachen. Besonders imponierte mir der klare feste Blick der großen blauen echten Seemannsaugen.

An Anknüpfungspunkten zu einem lebhaften Gespräch fehlte es uns beiden nicht. Kannte ich doch den Schauplatz seiner Thätigkeit, das Meer zwischen Pommern und Rügen und die Küsten, die es umschließen, so gut! Mehr als einmal war ich in Begleitung meines Vaters, dem, als Regierungs- und Baurath des Bezirkes, auch die königlichen Lotsenstationen unterstanden, in dem Dorfe Thiessow auf der rügenschen Halbinsel Mönchgut gewesen, wo jetzt, wie sein Vorgänger, auch der Lotsenkommandeur Müller residierte. Selbstverständlich hatte ich diesen seinen Vorgänger gut gekannt; mehr noch: der originelle, behaglich rundliche Mann mit der unverwüstlichen Gutmüthigkeit und unerschütterlichen Seelenruhe war für mich das Urbild meines Lotsenkommandeurs in der Novelle „Auf der Düne“ gewesen. Weiter: der Schauplatz besagter Novelle war die winzig kleine Insel Ruhden zwischen Mönchgut und der pommerschen Küste, die man im Scherz meines Vaters Königreich nannte, weil er sie durch geschickte Bauten und zweckmäßige Pflanzungen so wacker und erfolgreich gegen die anstürmenden Fluthen vertheidigte und so dem Staate eine wichtige Lotsenstation erhielt, über welche jetzt Friedrich Müller kommandierte, wie zu meiner Knaben- und Jünglingszeit der gemütliche prächtige W.

Ich hatte dem Kommandeur durch die Anekdoten, die ich von dem liebenswürdigen alten Herrn zu erzählen wußte – der, nebenbei bemerkt, auch meinem Landsmann Heinrich Kruse in seinen köstlichen „Seegeschichten“ wiederholt Modell gestanden hat – manch behagliches Lächeln entlockt; aber bald kam ein ernsteres – ein furchtbar ernstes Thema an die Reihe: die Sturmfluth vom Herbst 1872.

Aus Gründen, die der Leser bereits ahnt, war mir dieses Thema ganz besonders interessant, und ich zweifle keinen Augenblick, daß ich den Kommandeur darauf hingelenkt hatte. Selbstverständlich hatte ich alles gelesen, was die Zeitungen seiner Zeit über das ungeheure Ereigniß gebracht; aber hier durfte ich, ich möchte sagen: aus der Quelle schöpfen. Am 1. November 1872 war Friedrich Müller auf die Lotsenkommandeurstelle in Thiessow berufen worden; ein paar Wochen später kam die Sturmfluth. Der Mann durfte beweisen, daß man sich nicht in der Person vergriffen hatte, als man ihm den verantwortlichen Posten anvertraute. Von dem, was er uns über seine persönliche Betheiligung an den Ereignissen jener Schreckenstage mittheilte, geziemt mir hier zu schweigen. Ich müßte fürchten, nach so langer Zeit nicht mehr sicher in den Einzelheiten zu sein, und erfunden habe ich auf Kosten des bescheidenen Mannes schon gerade genug. Ebenso muß ich auf die Auseinandersetzung der interessanten Theorie verzichten, die er sich von der Entstehung der Sturmfluth gemacht hatte und nun uns, seinen dankbaren Zuhörern, zum besten gab. Der Leser findet sie in dem neunten Kapitel des ersten Buches von „Sturmfluth“, wo ich sie – wie sie mir im Gedächtniß geblieben war – meinen Helden Reinhold Schmidt auf Schloß Golm der um die Abendtafel versammelten Gesellschaft vortragen lasse.

Wie interessant mir der Mann durch das alles schon geworden war! Und doch sollte das Beste, das Entscheidende, das, wofür ich ihm Zeit meines Lebens die innigste Dankbarkeit bewahren werde, noch kommen!

Nun weiß ich nicht: waren die beiden Herren, die bis dahin in unserer Gesellschaft gewesen waren, verschwunden, oder nur für mich verschwunden, weil ich für niemand sonst noch Aug’ und Ohr hatte, als für ihn allein – an dem ich mich fest gesogen wie die Biene an der Honigblume – jedenfalls hat sich die Sachlage in meiner Erinnerung so gestaltet, daß wir einander gegenübersitzen, auf dem kleinen Tische zwischen uns eine Flasche Röderer carte blanche, aus der bald er mir einschenkt, bald ich ihm das Glas fülle; und er erzählt – aber nicht mehr von dem Graus der Sturmfluth, sondern die Geschichte seines Lebens.

Ich frage mich jetzt, wie das möglich gewesen ist nach einer Bekanntschaft von zwei Stunden. Aber es hat Philosophen gegeben, die behaupteten, daß die Zeit, die immer war und immer kommt, gar nicht existiere, außer in der Vorstellung der Menschen, die sich ohne diesen Ariadnefaden in der konfusen Welt vollends verirren würden. Sicher ist sie ein sehr relatives Etwas, wie jeder Liebende bestätigen wird, der die Allgewalt des „Herrschers Augenblick“ empfunden. Mit der Freundschaft ist es nicht anders. Auch sie kann einem allerersten Eindruck ihr Dasein verdanken. Es gehört nur die Berührung zweier Geister dazu, die sich durchaus sympathisch sind. Das findet nicht eben häufig statt, und in die Wahl des Menschen ist es nicht gegeben – es ist ein Geschenk des Zufalls, der uns im Leben soviel böse Streiche spielt und für dies eine Mal ausnahmsweise seine Gebelaune hat.

Nun denn, hier hatte er seine Gebelaune, seine allerbeste, und zwei Männer zusammengeführt, die sich nur in die Augen zu sehen brauchten, um einer den anderen von allen Präliminarien der gewöhnlichen Freundschaft zu entbinden. Wenn ich eine Million gehabt hätte, dem da mir gegenüber hätte ich sie ohne weiteres in Verwahrung gegeben, und wenn er mir nun, wie er es that, die Geschichte seines Lebens erzählte – was war es anderes als ein Beweis der herzlichen Zuneigung, die er für mich gefaßt, und ein Votum unbedingten Vertrauens?

Habe ich dies Vertrauen mißbraucht, als ich die „Sturmfluth“ schrieb? Ich tröste mich mit der Zuversicht, daß Friedrich Müller selbst, wenn er – was sicher der Fall gewesen ist – das Buch gelesen, mich von diesem Vorwurf freigesprochen hat. Sind doch die Thatsachen, wie der Leser sich überzeugen wird, so verwandelt und verschleiert, daß der wahre Zusammenhang nur den Menschen, die ihm im Leben nahe standen, klar sein konnte, für alle übrigen aber undurchdringliches Geheimniß bleiben mußte. Und nach einer Seite hätte ich überhaupt gar keine Diskretion zu üben brauchen: dieser Mann durfte in einem Hause von Glas wohnen.

Dann war unsere Flasche – es mögen auch ihrer zwei gewesen sein – zu Ende; er wollte diesen Abend noch nach Swinemünde; der übrigens günstige Wind hatte stark abgeflaut, würde sich aber, wie er sagte, später wieder aufmachen. Jedenfalls mußte geschieden sein. Ich gab ihm das Geleit bis zum Kopfe der Landungsbrücke. Wir schüttelten uns die Hände. Er stieg in seine Jolle. Ich blickte ihm nach, bis er den Kutter erreicht, der schon die Segel aufgezogen hatte. Er winkte, auf dem Decke stehend, mit der Hand. Der Kutter drehte in den Wind. Er hatte das Steuerruder ergriffen; das große Segel schob sich zwischen mich und ihn. Ich habe ihn nie wiedergesehen. –

Am nächste Vormittag traf ich meine schöne Freundin wieder in der Veranda. Sie saß auf ihrem gewohnten Platze an der Balustrade; das lichtbraune Haar floß ihr, aufgelöst, in pruchtvollen Wellen bis über den Gürtel.

„Aber, mein Gott,“ sagte sie nach der ersten Begrüßung, „was ist Ihnen? Sie sehen blaß aus, ordentlich mit Ringen unter den Augen. Haben Sie so schlecht geschlafen?“

„Ich habe gar nicht geschlafen, gnädige Frau.“

„Aber Sie sollten es doch und von Ihrem Helden träumen!“

„Ich habe von ihm geträumt – mit offenen Augen. Er ist gefunden, gnädige Frau, und der Roman ist fertig!“

Sie sah mich mit ungläubigem Lächeln an.

„Das geht schnell,“ sagte sie.

„Freilich,“ rief ich, „denn

‚Aus den Wolken muß es fallen,
Aus der Götter Schoß das Glück.‘

Haben Sie Zeit und Geduld, mir zuzuhören?“

„Einen Ocean von beiden.“

„Nun denn! Ich sagte Ihnen gestern, daß ich mich schon seit einem Jahre und darüber mit der Idee zu einem Roman trage, den ich nicht beginnen könne, weil mir der Held fehle. Heute, da ich meinen Helden sicher habe, darf ich auch von der

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 270. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_270.jpg&oldid=- (Version vom 12.12.2020)