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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Sohnes leichter verwunden als Deinen Abfall. Das wird ein rührendes Schauspiel, wenn Ihr Euch jetzt auf Leben und Tod bekämpft.“

„Landsfeld, jetzt ist es genug!“ brauste der junge Ingenieur in höchster Gereiztheit auf. „Ich habe Dich schon einmal ersucht, Dich nicht um meine persönlichen Verhältnisse zu kümmern, jetzt verbiete ich es Dir ein für allemal. Schweig’ davon!“

„Ja, ja, Du drohtest damals in Radefeld, mich zur Thür hinauszuwerfen,“ höhnte Landsfeld, dem Runecks Zorn Spaß zu machen schien. „Aber hier sind wir in einem fremden Hause, da wirst Du das wohl bleiben lassen. Doch zur Sache! Ich wollte Dir nur klar machen, daß Du heute abend alle sentimentalen Rücksichten beiseite lassen mußt, wenn Deine Rede wirken soll. Du weißt, was die Partei von Dir erwartet.“

„Ja – ich weiß es.“

„Nun also, nimm Dich zusammen! Die Odensberger müssen wir haben, denn bei ihnen liegt die Entscheidung. Du mußt daher energisch Front machen gegen Dernburg und gegen alles, was er ins Werk gesetzt hat. Du mußt den Leuten zeigen, daß seine Schulen und Krankenhäuser und Pensionskassen, mit denen er sie kirrt, in unseren Augen gar nichts werth sind, ein Bettelpfennig, den er seinen Arbeitern hinwirft, während er die Millionen einstreicht. Uns glauben die Leute das nicht, Dir werden sie es glauben, denn sie wissen, wozu der Alte Dich erzogen hat. Du solltest der künftige Leiter seiner Werke werden, der Erste nach ihm, und Du hast ihm das vor die Füße geworfen um unserer Sache willen: das ist es, was Dich bei den Odensbergern allmächtig macht, und darum allein haben wir Dich für die Wahl aufgestellt. Mit allgemeinen Redensarten kommst Du da nicht durch – Du mußt dem Gegner zu Leibe gehen und ihn aufs Haupt schlagen.“

Egbert wandte sich langsam um, in seinen Zügen stand eine düstere Entschlossenheit, aus seiner Stimme sprach bitterer Hohn, als er antwortete: „Ja wohl, ich muß – muß! Einen Willen habe ich nicht mehr. – Laß uns zu den anderen gehen!“




In Odensberg war das heitere gesellige Leben verstummt, das den ganzen Sommer hindurch dort geherrscht hatte und dessen Mittelpunkt das junge Brautpaar gewesen war. Die Familie trug noch die erste tiefe Trauer um den, welchen man vor kaum zwei Monaten ins Grab gesenkt hatte, und die Stimmung im Hause war so schwer und trübe wie die nebelerfüllten Herbsttage draußen.

Nur Maja machte eine Ausnahme. Doktor Hagenbach hatte recht: mit siebzehn Jahren weint man sich aus und tröstet sich dann, selbst über den Verlust eines geliebten Bruders; und hier war zudem ein besonderer Tröster ganz in der Nähe. Oskar von Wildenrod war selbstverständlich in Odensberg geblieben, und wenn auch jetzt von einer öffentlichen Verlobung nicht die Rede sein konnte, so hatte doch der Vater seine Einwilligung nunmehr in aller Form gegeben.

Maja war unendlich lieblich in ihrem stillen verschwiegenen Glück und Oskar bewies ihr im Kreise der Familie, wo er sich keinen Zwang aufzuerlegen brauchte, die zärtlichste Aufmerksamkeit und Hingebung. Er schien sehr verändert; der herbe Zug verschwand mehr und mehr aus seinem Gesicht, sein ganzes Wesen milderte sich unter dem Einfluß dieses aufblühenden Glückes, das ihn an das Ziel seiner Wünsche brachte.

Dernburg selbst trug den Schmerz um seinen Sohn, wie er alles Schwere im Leben zu tragen pflegte, gefaßt und schweigsam und suchte seinen Trost in der Arbeit, der er sich mit noch größerem Eifer als sonst hingab. Zwischen ihm und seiner Schwiegertochter hatte der Tod Erichs ein unerwartet inniges Band geknüpft. Denn wenn der Vater auch die Braut seines Sohnes als Tochter empfangen und behandelt hatte, in seinem Innersten war er früher dieser Verbindung stets abgeneigt geblieben; das eitle übermüthige Weltkind hatte dem Manne der strengen Pflicht immer fern gestanden. Die junge Witwe aber mit ihrem anfangs so verzweiflungsvoll ausbrechenden Schmerze und der stillen verschlossenen Schwermuth, die dann folgte, fand seine ganze väterliche Liebe. Von dem Augenblick an, da er sie am Sterbebette Erichs in seine Arme geschlossen hatte, nahm sie auch einen Platz in seinem Herzen ein.

Er ahnte freilich nicht, daß dieser leidenschaftliche Schmerz Cäciliens nur Reue war, Reue über jene Stunde, in welcher sie lieber in den Tod hatte flüchten wollen als in die Arme ihres Gatten, der in eben jenen Minuten sterbend zusammenbrach. Sie wußte das Schlimmste freilich nicht: daß gerade ihre unseligen Worte ihm den Tod gegeben. Oskar hatte sich das Schweigen des Dieners gesichert, der Erich hatte hinausgehen und eintreten sehen, und sonst wußte niemand darum. Aber die junge Frau ahnte etwas von dem Zusammenhang und flüchtete zu dem Vater, weil sie ein geheimes Grauen vor ihrem Bruder nicht zu überwinden vermochte.

Im übrigen konnte sich Dernburg jetzt nur wenig seiner Familie widmen, denn neben der gewohnten Arbeitslast, die er nach wie vor auf seine Schultern nahm, forderten die bevorstehenden Wahlen seine Zeit und seine Kräfte im höchsten Maße. In seiner Partei galt es als selbstverständlich, daß ihm das Mandat für den Reichstag, das er so lange ausgeübt hatte, auch diesmal wieder zufallen werde, aber man kam bald zu der Einsicht, daß der Sieg diesmal erst erstritten werden müsse, daß die Gegner mit Hochdruck arbeiteten. Da galt es, nach allen Richtungen hin thätig zu sein, und dabei fand Dernburg eine ganz unerwartete Stütze an Oskar von Wildenrod. Dieser hatte sich unglaublich rasch mit den politischen Verhältnissen vertraut gemacht, und sein scharfer Blick, sein sicheres treffendes Urtheil erregten die Bewunderung der anderen, die seit Jahren mitten in diesen Verhältnissen standen. Der Freiherr war überall, wo es nothwendig schien, er nahm an allen Versammlungen und Sitzungen theil und trat mit einem wahren Feuereifer für die Sache ein. Der einstige Diplomat segelte wieder im vollen Fahrwasser der Politik, und es war kein Wunder, daß sein Einfluß auf Dernburg, dem er fast nicht von der Seite wich, mit jedem Tage größer wurde.

Endlich war der Tag gekommen, wo der letzte entscheidende Kampf an der Wahlurne selbst ausgefochten werden sollte. Im Direktionsgebäude der Odensberger Werke herrschte schon seit den Morgenstunden eine ungewöhnliche Thätigkeit. Die unteren Räume enthielten den Sitzungssaal, wo sonst die größeren Vorträge und Berathungen stattfanden; hier hatten sich heute sämtliche Oberbeamten eingefunden, hier trafen die telegraphischen Nachrichten aus der Stadt und die Boten aus den Landbezirken ein, die wenigstens annähernd den Stand der Wahlbewegung verkündeten. Das sonst so friedliche Sitzungszimmer sah aus wie ein Feldlager, dessen Mittelpunkt der Direktor bildete; und unaufhörlich gingen die Botschaften nach dem Herrenhaus hinüber.

Es war in den Nachmittagsstunden, als Doktor Hagenbach eintrat und von den anwesenden Herren mit Vorwürfen wegen seines Ausbleibens empfangen wurde.

„Wo haben Sie denn eigentlich gesteckt, Doktor?“ rief ihm der Direktor ärgerlich entgegen. „Wir sitzen hier allesamt in Sorge und Aufregung, und Sie machen in aller Gemüthlichkeit Ihre Krankenbesuche und lassen sich gar nicht sehen!“

„Ich kann den Leuten doch nicht verbieten, am Wahltag krank zu sein und zu sterben,“ sagte Hagenbach ernst. „Ich mußte nach Eckardstein, schon heute vormittag, und da ließ man mich nicht eher fort, als bis alles vorüber war.“

So sehr die Herren auch heute von anderen Dingen in Anspruch genommen waren, diese Nachricht erregte doch allgemeine Aufmerksamkeit. „Ist der Graf tot?“ fragte der Direktor überrascht.

„Er starb vor zwei Stunden.“

„Das ist für den Grafen Viktor ein jäher Glückswechsel,“ bemerkte der Oberingenieur. „Gestern noch ein armer abhängiger Lieutenant und heute Besitzer der großen Eckardsteinschen Herrschaft. Graf Konrad soll nicht eben freundlich gegen seinen jüngeren Bruder gewesen sein.“

„Nein; trotzdem hat sich dieser aber in der ganzen letzten Zeit aufs liebevollste gezeigt. – Und nun, meine Herren, bin ich wohl genügend entschuldigt wegen meines Ausbleibens, nothwendig war ich hier ja nicht. Wie steht es eigentlich? Hoffentlich gut.“

„So besonders gut gerade nicht,“ meinte der Oberingenieur. „Die Nachrichten aus den Landbezirken sind befriedigend, aber in der Stadt haben offenbar die Sozialdemokraten das Heft in der Hand.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 274. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_274.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)