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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


„Nun, darauf mußten wir von vornherein gefaßt sein,“ fiel Winning, der Leiter des technischen Bureaus, ein. „Den Ausschlag giebt Odensberg und damit sichern wir uns die Majorität.“

„Wenn wir unbedingt darauf rechnen können – ja,“ sagte der Direktor. „Aber ich fürchte –“

„Was fürchten Sie?“ fragte Hagenbach betroffen, als jener abbrach.

„Daß wir falsch gerechnet haben. Runecks Anhang unter den Leuten scheint größer zu sein, als wir voraussetzten – die Anzeichen davon traten freilich erst in letzter Stunde zu Tage.“

„Runeck ist ein ausgezeichneter Redner,“ sagte Winning ernst, „und seine große Wahlrede neulich im ‚Goldenen Lamm‘ hat die ganze Zuhörerschaft mit fortgerissen. Allerdings, auf seiner sonstigen Höhe stand sie nicht. Sonst sprach er kalt, mit eiserner Ruhe, aber jedes Wort war ein wuchtiger Keulenschlag, diesmal stürmte er dahin wie ein toll gewordenes Pferd, ohne Maß und Ziel.“

„Er wird Angst um sein Mandat gehabt haben,“ spottete der Oberingenieur. „Doch da kommt Helm, vielleicht bringt er etwas Wichtiges.“

Es war einer der jüngeren Beamten, der jetzt eintrat und ein eben eingetroffenes Telegramm überreichte. Der Direktor öffnete und las es und reichte es dann schweigend dem Doktor Hagenbach, der neben ihm stand. Dieser warf einen Blick hinein und schüttelte den Kopf. „Das ist sehr unangenehm! Also in der Stadt ist nach Schätzung unserer Vertrauensmänner der Sieg der Sozialisten so gut wie entschieden! Lesen Sie, meine Herren!“

Das Telegramm machte die Runde, während der Direktor an das Telephon trat, welches das Sitzungszimmer mit dem Herrenhause verband, um dem Chef vorläufige Nachricht zu geben.

„Jetzt ist die Entscheidung einzig und allein auf Odensberg gestellt,“ sagte der Oberingenieur. „Es war jedenfalls unklug, den Schreier, den Fallner, gerade jetzt zu entlassen, unmittelbar vor den Wahlen. Das hat böses Blut gemacht und kostet uns vielleicht Hunderte von Stimmen. Aber Herr Dernburg war ja unbeugsam!“

„Sollte er sich vielleicht gefallen lassen, daß dieser Mensch in seiner Werkstatt ganz offen gegen ihn predigte und hetzte?“ fiel Winning ein. „Dergleichen ist überhaupt nie in Odensberg geduldet worden und jetzt wäre es vollends ein Beispiel von unverzeihlicher Schwäche gewesen.“

„Ich fürchte aber, daß es sich hier nur um ein Wahlmanöver gehandelt hat,“ beharrte der andere. „Fallner wußte ganz genau, was ihm bevorstand, mußte es wissen, allein er gehörte zu den Neueingetretenen, die noch nicht viel verlieren, wenn sie gehen, deshalb gab er sich zu der Geschichte her. Er sollte entlassen werden, die Sache sollte böses Blut unter den Leuten machen, darauf war es abgesehen. Ich habe das dem Herrn auch vorgestellt – vergebens. ‚Ich dulde keine Auflehnung und keine Hetzereien auf meinem Gebiet – dem Manne wird sofort gekündigt!‘ das war seine einzige Antwort, und damit gab er unseren Gegnern die Waffe in die Hand.“

Winning schwieg, ärgerlich darüber, daß er keine Widerlegung fand. Der Direktor aber, der jetzt vom Telephon zurückkam und die letzten Worte gehört hatte, sagte bedeutsam: „Wenn die Sache nur mit dem Verlust an Stimmen zu Ende ist! Mir wurde schon gestern berichtet, daß die Arbeiter von allen Seiten bearbeitet werden, für Fallner einzutreten und sein Bleiben zu fordern. Thun sie das wirklich, dann haben wir den Kampf.“

„Sie werden es aber nicht thun, denn sie kennen den Herrn,“ mischte sich Doktor Hagenbach ein. „Der läßt sich nichts abzwingen, und wenn er seine sämtlichen Werke schließen müßte. Unsere Odensberger wären ja geradezu toll, wenn sie es darauf ankommen ließen!“

„Und wenn es das Tollste wäre, was fragt Landsfeld und sein Anhang danach,“ rief der Oberingenieur. „Die wollen den Kampf, gleichviel um welchen Preis und mit welchen Opfern. Ich bleibe dabei, es war ein Fehler, den Fallner zu entlassen. Leider ist er noch hier und tritt erst übermorgen aus der Arbeit. Wer weiß, was uns noch daraus erwächst! Wenn die Wahl verloren geht und infolgedessen die Leidenschaften wachsen, können wir eine böse Ueberraschung erleben.“

„Unsinn! Sie sehen Gespenster!“ schalt Winning; der Direktor aber sagte ernst: „Ich wollte, der Tag wäre vorbei!“

Drüben im Herrenhause harrte man mit der gleichen gespannten Erwartung auf den Ausfall der Wahl, und im Arbeitszimmer des Hausherrn ging es fast ebenso lebhaft zu als im Direktionsgebäude. Dernburg freilich nahm die eintreffenden Berichte, das Gehen und Kommen seiner Beamten, die von Zeit zu Zeit mündlich Meldung erstatteten, mit der gewohnten Ruhe hin. Für ihn handelte es sich ja nicht um eine Frage des Ehrgeizes, er brachte seinem Mandat Zeit zum Opfer und Kräfte, die er seinem Berufe entzog und deren Versagen er jetzt, bei beginnendem Alter, doch bisweilen fühlte. Einem Gesinnungsgenossen hätte er daher willig den Platz geräumt, aber so, wie die Sache lag, knüpfte sich an seinen Namen der Sieg seiner Partei, und zudem war es Odensberg, das seine Wahl entschied, da war diese Wahl eine Ehrensache für ihn.

Dernburg befand sich eben allein mit seiner Schwiegertochter. Die junge Frau, die ernst und bleich in ihrer Witwentrauer am Fenster lehnte, war ihrem Schwiegervater in der letzten Zeit immer vertrauter geworden. Ihr gestattete er bisweilen einen Einblick in sein sonst so streng verschlossenes Innere; sie wußte auch allein, was seine Stirn heute so schwer und düster furchte. Es war nicht die Besorgniß vor einer Niederlage, die er überhaupt nicht für möglich hielt, die Bitterkeit dieses Kampfes lag für ihn darin, daß der Gegner Egbert Runeck hieß.

„Oskar ist in einer Aufregung, als gelte es seine eigene Wahl,“ sagte Dernburg, nachdem er die ihm überbrachten Depeschen nochmals durchlesen hatte.

„Auch mich überrascht es, daß mein Bruder so ganz in der Politik aufgeht,“ entgegnete Cäcilie, mit einem leisen Kopfschütteln. „Er hat sich sonst wenig darum gekümmert.“

„Weil er jahrelang seinem Vaterland fern geblieben ist! Es war unverantwortlich, daß er seine Kräfte so lange brach liegen ließ. Ich sehe jetzt erst, was er leisten kann, wenn ihm das Feld einer großen Thätigkeit gegeben ist.“

„O, ich glaube, Oskar kann unendlich viel, wenn er ernstlich will, und er will in Odensberg ein neues Leben anfangen, er hat es mir versprochen.“

Die Worte klangen eigenthümlich, fast wie eine Entschuldigung, aber Dernburg achtete nicht darauf. „Dazu wünsche ich ihm und mir Glück,“ sagte er ernst. „Ich gestehe es Dir offen, Cäcilie, ich hegte bisher immer noch ein gewisses Vorurtheil gegen Deinen Bruder, jetzt ist es gefallen. Er ist mir in diesen letzten Wochen die treueste zuverlässigste Stütze gewesen – das werde ich ihm danken.“

Die junge Frau antwortete nicht, sie blickte hinaus in den trüben nebelerfüllten Oktobertag, der sich jetzt seinem Ende zuneigte. Es dämmerte bereits; der Diener brachte die Lampe und mit ihm traten Wildenrod und Maja in das Zimmer. Der Freiherr sah erregt und finster aus; Dernburg wandte sich rasch zu ihm.

„Nun, wie steht es, Oskar? Was bringen Sie? Nichts Gutes, das sagt mir schon Ihr Gesicht! Sind neue Nachrichten gekommen?“

„Ja, aus der Stadt. Unsere Befürchtungen haben sich bestätigt, die Sozialisten haben dort die Mehrheit.“

„Also doch!“ rief Dernburg heftig. „Es ist das erste Mal, daß sie das durchsetzen. Nun, wir werden ihnen mit Hilfe der Odensberger Stimmen die Siegesfreude schon dämpfen!“

Cäciliens Blick suchte mit bangem Ausdruck den des Bruders und seine Züge verriethen ihr, daß er diese Zuversicht nicht theile. Es lag auch ein gewisses Zögern in seiner Stimme, als er antwortete: „Odensberg hat allerdings das entscheidende Wort und wird es hoffentlich für uns sprechen. Trotzdem müssen wir mit jeder Möglichkeit rechnen –“

„Aber doch nicht mit der Möglichkeit, daß meine Arbeiterschaft mich im Stiche läßt?“ fiel Dernburg ein. „Dergleichen traue ich den Leuten ein für allemal nicht zu. Fassen Sie sich in Geduld, Oskar, man merkt Ihnen an Ihrer fieberhaften Unruhe den Neuling an. Die Wahl muß übrigens gleich zu Ende sein.“

Er erhob sich, aber die Art, wie er im Zimmer auf und ab schritt und immer wieder nach der Uhr blickte, verrieth, daß er doch keineswegs so kaltblütig war, als es den Anschein haben sollte.

(Fortsetzung folgt.)
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 275. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_275.jpg&oldid=- (Version vom 19.9.2021)