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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

jetzt, ihre Zeit abzuwarten. Wenn nur Herr von Nievern nicht gewesen wäre! Er mußte doch eine Art Gegner von ihr sein, sonst hätte er ihr wohl ein wenig geholfen, ihr und dem Vetter die Sache erleichtert. Denn er und der alte Förster da, revierkundig wie sie waren, wußten gut genug, um was es sich handelte. Statt sich aber einzumischen, stand wenigstens der Oberjägermeister stockstill da, einen eigenen Zug gespannter Erwartung auf dem Gesicht, und verwandte während der nun folgenden Scene keinen Blick von ihr, als seien diese Leyens nur gerade gut genug, um ihm zum Schauspiel zu dienen, wie Polyxene jetzt bald bitterlich zürnend dachte.

Frau von Méninville hatte der Pfalzgräfin mit einem kleinen Lächeln etwas zugeflüstert, worauf die fürstliche Dame, dem ganzen Hofstaat vernehmlich, sagte: „Haben Sie uns durch Ihr Erscheinen eine Lektion geben wollen, Fräulein von Leyen, dafür, daß wir Sie zur Jagd nicht hatten laden lassen? Lieber Himmel, Sie sind einmal vergessen worden. Dergleichen kann vorkommen.“

Alles spitzte die Ohren. Eine so wegwerfende Sprache – das klang nach unverhohlener Ungnade! Fräulein Polyxene selber war offenbar mehr verwundert darüber als niedergeschmettert. Sie stand ruhig der Fürstin gegenüber – der Hirsch lag zwischen ihnen – und sagte: „Verzeihen Pfalzgräfliche Hoheit, wenn ich ungebeten vor dero Angesicht trete. Es geschieht ganz zufällig ... wir hatten kein Arg daran, Ludwig und ich, daß wir diesem Platze so nahe waren.“ Und da die Fürstin hierauf kalten Antlitzes schwieg und mit ihr natürlich die ganze große Versammlung, so fuhr das Fräulein, auf das aller Augen gerichtet waren, wie bittend und entschuldigend fort: „Der Jagdeifer ist schuld daran: wir folgten einem angeschossenen Hirsche ...“

„Das heißt, Ihr pirschtet in unserem Gehege,“ rief da die kleine Pfalzgräfin höhnisch. Der ganze Hof stand erstarrt; es war unerhört, die Dame so zornig aus sich herafusgehen zu sehen. „Seht Euch in Zukunft besser vor, ich bitte! Man hat uns berichtet, daß unser Wildstand durch Euere unwillkommene Nachbarschaft geschädigt wird!“

Jetzt stand auch Polyxene starr vor Staunen und Scham. Redete denn niemand für sie und widerlegte diese thörichte Unwahrheit? Wirklich niemand? Nein. Einer wollte reden, augenscheinlich, das war aber nur der junge Lutz. Der Knabe hatte sich an seine schwesterliche Verwandte herangedrängt und seine Hand in die ihrige geschoben und der Druck seiner Finger sagte: sprich doch, oder ich spreche! Mit sprühenden Blauaugen sah er zu der mit einem Male so bösartigen fürstlichen Figur hinüber. Aber noch hielt ihn Polyxenens Gebärde, die er wohl verstand, gebieterisch zurück. Das Fräulein hatte indessen mit einer Besonnenheit, die jeder Unparteiische im stillen an dem jungen Geschöpf bewunderte, die Antwort unterdrückt, die ihr zuerst auf die Lippen wollte. Aber was nun kam, war auch nicht viel besser. „Verzeihung, gnädigste Frau,“ sagte sie gehalten, „ich glaube, die fürstliche Wildbahn könnte schlimmere Nachbarn haben als die Leyens.“

„So?“ meinte die Pfalzgräfin feindlich. Sie war aus dem Konzept gebracht, aber in ihrer Gewohnheit, so unvernünftig sein zu dürfen, wie es ihr beliebte, kümmerte sie sich nie viel darum, wenn sie den Faden irgend eines Gedankens verlor. So fragte sie mit einem Male, mit einem mißtrauischen Blicke: „Wo ist denn der Hirsch geblieben, den Ihr angeschossen haben wollt?“

Ein sekundenlanges Zögern, ein Warten Polyxenens vielleicht auf die Einmischung des Rechts- und Billigkeitsgefühls von befugter Seite her, und dann, da wieder niemand anders sprach, ihre Stimme: „Hier!“

Es gab eine unwillkürliche allgemeine Bewegung in der Hofgesellschaft, als das Fräulein die Hand, wie vorhin schon einmal, auf den als fürstliche Ehrenbeute so ausdrücklich bekränzten Sechzehnender legte. Jetzt verstand die Méninville mit einem Male das sonderbare Behaben des Oberjägermeisters vorhin, als der Hirsch gefallen war. Scharfsinnig, wie sie war, begriff sie, daß er und der Förster gleich gemerkt hatten, welche Bewandtniß es mit dem Thiere habe. Sehr viel aber fehlte daran, daß auch Frau Sabine Eleonore den Sachverhalt begriffen hätte oder nur hätte begreifen wollen. „Erklärt mir, Herr von Nievern,“ begann sie und drehte den Kopf steif wie auf einem hölzernen Zapfen zu dem Oberjägermeister. „Was bedeutet diese ganze Komödie, die das Fräulein von Leyen da aufzuführen beliebt?“

Jetzt mußte sich Herr von Nievern aus seiner so lange beibehaltenen beobachtenden Stellung der Scene gegenüber herausbegeben; er trat aber nur einen Schritt vor und machte mit ehrerbietiger Bewegung die Herrin darauf aufmerksam, daß ein anderer an seiner Statt zu reden wünsche – der junge Ludwig von Leyen. Die Verwandten mochten sich durch einige rasche Worte indessen verständigt haben. Der Knabe verließ Polyxenens Seite, näherte sich der fürstlichen Dome und bat, sie treuherzig ansehend, die Frau Pfalzgräfin möge den Hirsch, der heute erst aus Leyenschem Gehege ausgebrochen und in die Treiberlinie gerathen sei, allergnädigst zum Geschenk annehmen.

Der hübsche Junge war roth geworden, während er sprach, und das stand ihm gut. Jedermann fühlte, daß es eine vornehme Anmuth in der Denkweise war, welche den jungen Verwandten gerade diesen Ausweg wies. Nievern strich halb lächelnd sein Bärtchen und nickte beifällig. Auch die kleine Hoheit sah nicht ohne Wohlgefallen auf den Knaben, der in wenigen Jahren ein schöner Jüngling sein würde. Da veranlaßte sie eine leise Bewegung hinter ihr, sich zu ihrem getreuen Schatten, der Frau von Méninville, umzudrehen „Ein recht artiger Einfall, wie?“ sagte sie zu dieser.

„Klug zum Verwundern,“ gab die Méninville halblaut zurück und fügte dann einige noch leisere Worte hinzu. „Ha, das wäre!“ sagte die Pfalzgräfin. Und nun, das Kinn des leeren Gesichts wieder hochmüthig emporreckend wie vorher, sprach sie, dem Knaben zur Antwort, dabei aber feindselig nach dem Fräulein hinüberblickend: „Ehe man ein Geschenk annimmt, mein lieber Junker von Leyen, muß man erst wissen, ob es ein Geschenk ist! Wir wären närrisch, wenn wir uns beschenken ließen mit dem, was eigentlich unser war.“

Auf Lutzens offenem Knabengesicht war noch kaum ein Verständniß der schmählichen Unterstellung zu lesen, da war schon Polyxene neben ihm. „Komm, lieber Vetter,“ sagte sie, seine Hand fassend, mit leicht bebender Stimme, „es ziemt sich nicht für uns, länger zu bleiben an einem Orte, wo man uns beschimpft – Dich beschimpft, mein armer Junge.“ Die Thränen waren ihr nahe; sie wendete sich ab, den Knaben, der kaum wußte, wie ihm geschah, sanft mit sich ziehend. Von ihrer Umgebung sah und hörte sie nichts; alles schwamm ihr ineinander in der bittern Pein dieser Demüthigung, die so unvermuthet und unbegreiflich sie überfiel. Wie in einem Traume klang ihr daher die kräftige, tief gefärbte Stimme neben ihr, die sie jetzt aufhielt: „So sollt Ihr nicht gehen, Fräulein – hört erst, was noch jemand zu sagen hat.“

Herr von Nievern war es. Er faßte sogar leicht ihre Hand, indem er sie nöthigte, sich noch einmal dem großen, vor ihren brennenden Augen nur undeutlichen Halbkreise zuzuwenden, den die Pfalzgräfin und ihr Hofstaat bildete.

Der Frau Sabine Eleonore war es in diesem Augenblicke nicht wohl zu Muthe. Ihr unsicherer Blick wich ihres Oberjägermeisters männlichem Antlitz aus, auf welchem jetzt ein leicht spöttischer Zug sichtbar wurde, den sie wohl kannte und vor dem sie sich geradezu fürchtete. „Gestatten mir Pfalzgräfliche Hoheit, zu versichern, daß der Junker sich nicht irrt, wie Hoheit anzunehmen scheinen,“ sagte er „Der Hirsch gehört in das Leyensche Revier: Förster Brandt hier kennt ihn. Es wären also diesmal nicht Pfalzgräfliche Gnaden, sondern Pfalzgräflicher Gnaden Waldnachbarn der geschädigte Theil gewesen, wenn nicht der Junker, von dem wir in diesem Falle alle etwas lernen können“ – und mit gewinnender Freundlichkeit neigte der statttiche Mann das Haupt gegen den Knaben – „aus seinem Nachtheil den Vortheil gezogen hätte, Eurer Hoheit eine Huldigung zu Füßen zu legen. Ich hätte gewünscht, sein guter Wille wäre ihm besser gelohnt worden.“

Es schien, als wollte nach diesen starken Worten die höchst ungnädige fürstliche Laune sich gegen den Oberjägermeister kehren. Die kleine Dame sah auch ihn böse an – was aber nur versteckte Furcht vor ihm war – und sagte, mit einer besonderen Logik: „Wenn Ihr uns jetzt auch schulmeistern wollt, Herr von Nievern, so möcht’ ich wissen, warum Ihr vorhin geschwiegen habt. Es wäre Eures Amtes gewesen, gleich zu melden, daß der Hirsch nicht aus unserer Wildbahn war!“

Herr von Nievern neigte nur stumm das Haupt, nachdem sie gesprochen hatte, hob dann aber seinerseits noch einmal an: „Gewiß werden Pfalzgräfliche Hoheit, nachdem das Uebersehen

von dero Dienern nunmehr nachgeholt worden ist, gerne Ihrem

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