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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

bedenklichsten Stelle hat neuerdings die „Società degli Alpinisti Tridentini“ zur Erleichterung ein Drahtseil anbringen lassen, so daß jetzt der Berg in einem Jahre häufiger erstiegen wird als während der gesamten neunzehnjährigen Benutzung der früheren Route.

Der Einstieg zum Drahtseil.

Wer das Bild „Einstieg zum Drahtseil“ betrachtet, den erfaßt beinahe ein Schwindel. Doch versichert Wundt, die Sache erscheine hier wohl etwas schwieriger, als sie in Wirklichkeit sei.

Bei einer genaueren Betrachtung der Felswand zeigen sich nämlich da und dort wagrechte Stellen, auf welchen fester Fuß gefaßt werden könne, und auch für die Hände seien genügend Griffe vorhanden. Dazu komme, daß das fest verankerte Drahtseil än sich schon einen absolut sicheren Halt gewähre, welcher durch das von dem vorausgehenden Führer gehandhabte Manillaseil noch erhöht werde.

Der Mann, welcher sich mit der Linken am Drahtseil hält, ist Michele Bettega, der berühmteste unter den Führern von San Martlno. Mit der Rechten hat er das Seil gefaßt, dessen anderes Ende ein zweiter Führer, Giuseppe Zecchini, um einen Felsvorsprung geschlungen hat. Diese schwanke Brücke unterstützt den Mann in der Mitte, elnen italienischen Professor, der eben einen etwas weiten Schritt von rechts nach links zu machen hat.

Und noch eine andere kritische Stelle verräth uns die photographische Platte auf dem Bilde „Bettega am Cimone dena Pala“. Sie zeigt uns den vorauskletternden Führer, der immer die schwerste Arbeit hat, in seiner ganzen Meisterschaft.

„Michele steht hier,“ schreiht Wundt, „an einem vorspringenden Felsblocke, welcher erklettert werden muß, um auf den weiter oben befindlichen Vorsprung zu gelangen. Er sucht erst mit der linken Hand einen sicheren Halt, um dann mit der rechten nachzugreifen. Dann kommt ein Schwung mit beiden Armem und er ist in der dunkeln Nische gerade über ihm.“ Für den, der das nicht selbst erfahren, bleibt solche Leistung fast eine unvollziehbare Vorstellung, und wie erlöst ruht Auge und Sinn auf dem letzten Bilde (S. 292), welches uns die verwegenen Kletterer in luftiger Rast auf dem Gipfel vorführt. Ein fast noch größeres Räthsel als jene Kunstleistung des Führers bildet für den Beschauer die Frage, wie der Photograph zu dieser und zu den anderen Aufnahmen gelangen konnte. Ist es schon keine Kleinigkeit, den schweren photographischen Apparat auf solcher Klettertour mit sich zu schleppen, welche riesigen Schwierigkeiten muß es erst gehabt hahen, den richtigen Standpunkt für ihn zu gewinnen, ihn aufzustellen und all die vielen Handgriffe an ihm vorzunehmen, welche eine Aufnahme, wenn sie gelingen soll, nun einmal erfordert! Der Verfasser des Buches giebt uns darüber keinen Aufschluß, wie er es vermocht hat, so gleichsam zwischen Himmel und Erde seine Kunst noch auszuüben. Aber die Thatsache, daß seine Bilder vorhanden sind, und zwar so schön und scharf als man nur wünschen kann, sie beweist, daß er das Wagstück glücklich vollbracht hat.

Der Führer Michele Bettega an dem Cimone della Pala.

Für diejenigen, welche es ablehnen, sich auf derartige Hochfahrten einzulassen, winkt ein Ersatz im Botanisieren oder im „Grasen“, wie der Bergfex wohl geringschätzig sich auszudrücken liebt. In der That ist an Pflanzen und Blumen kein Mangel in der Umgebung von San Martino. Eine Flora, wie man sie in solch üppiger Fülle, solch leuchtender Farbengluth nur in dieser Höhe und unter diesem südlichen Himmelsstrich findet, schmückt die Flur, den Wald und die Felsen. Die Alpenrose, zu der man sich in andern Theilen des Gebirgs erst mühevoll kletternd den Weg bahnen muß, drängt sich hier mit ihren purpurnen Blüthen bis dicht an die Wohnungen der Menschen heran, die Feuerlilie, der Frauenschuh und tausend andere mehr oder weniger seltene Blumen, deren lateinische Namen nur der in der Kurgesellschaft selten fehlende gelehrte Botaniker bestimmen kann, bieten sich der pflückenden Hand zum herrlich duftenden Strauß.

Wie schon gesagt, ist San Martino kirchlichen Ursprungs. Schon zu Anfang dieses Jahrtausends als Kloster erbaut, diente es gleichzeitig als Hospiz und wurde im sechzehnten Jahrhundert in ein Kirchenbenefiz unter dem Patronate der Grafen von Welsperg umgewandelt, welche noch heute dieses Ehrenamt inne haben. Der Name „Castrozza“ soll von dem lateinischen „castrum“ herrühren, indem das Hospiz den üher den Rollepaß Wandernden gewissermaßen als Lager- und Etappenplatz diente. Eine Wirthschaft befand sich in dem Klostergebände seit jeher, der eigentliche Aufschwung des Platzes als Touristen-Standquartier und Sommerfrische schreibt sich aber erst aus dem Jahre 1878 her, in welchem die neue Straße vollendet und dadurch eine bequemere Verbindung mit der Eisenbahn hergestellt wurde; diese aber liegt doch wieder zu meit ab, als daß die Idylle dieses Erdenwinkels durch die unruhigeren Elemente des Fremdenverkehrs gestört würde.

Der Ort San Martino umfaßt außer der Kirche und dem Pfarrhaus nur noch wenige Gebäude. Zur Rechten liegt das altehrwürdige Kloster mit seinen wetterfesten Mauern, die auch eine Wirthschaft einschließen; daran stößt die Wohnung des Pfarrers, mit dem Postbureau zu ebener Erde, und weiter ein großes Hotel, das mit seinen in jüngster Zeit vollendeten umfangreichen Neubauten über hundert Personen beherbergen kann. Unmittelbar vor diesen Gebäuden befindet sich eine breite Terrasse, auf welcher sich den Sommer über stets ein reges Leben abspielt, ein beständiges Kommen und Gehen, zu Wagen und zu Fuß.

Unter dem Schatten eines Zeltdaches sitzen die Gäste des Hauses, spielen Kegel oder trinken Bier, hier sammeln sich auch die Führer, um die Besteigungen zu besprechen. Zwei dieser wackeren Männer, die unsere Gruppe auf S. 284 vereinigt, Bettega und Zecchini, haben wir schon kennengelernt; die beiden andern sind Antonio Tavernaro und der erst fünfundzwanzigjährige Zagonel Bortolo. Auf all das fröhliche Gewimmel schauen in ernster, ewig unveränderlicher Ruhe und Hoheit die Bergriesen der Pala herab; phantastische Schatten zeichnen sich ab auf den zerrlssenen steinernen Wänden, die bald im vollen Sonnenglanz erstrahlen, bald, von wirren Nebelfetzen umlagert, ein tolles Versteckspiel treiben. Ja, die Nebel slnd ein häufiger Gast in diesen Höhen – denn nicht allzu weit draußen breltet sich der blaue Spiegel der Adria, und seine feinen Wasserdämpfe schlingen sich gern als wallende wogende Schleier um die Zacken der nachbarllchen Gebirge. C. H.     




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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 286. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_286.jpg&oldid=- (Version vom 9.1.2022)