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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Leonie stutzte bei dem Namen und wandte sich heftig um. „Wer, sagten Sie?“

„Frau Willmann, gnädige Frau.“

„So heißt die Wirthin vom ‚Goldenen Lamm‘,“ erläuterte Hagenbach, der jetzt einsah, daß ein Verschweigen nichts mehr nütze und daß die „ganze Wehmuthsgeschichte doch noch einmal durchgesäuselt werden müsse“. Leonie sagte zwar kein Wort, aber die fliegende Röthe, die ihr Gesicht färbte, verrieth, wie sehr diese Erinnerung an den einstigen Verlobten sie erschütterte. Der Doktor zog es deshalb vor, die Sache selbst zur Sprache zu bringen, als das Mädchen das Zimmer verlassen hatte.

„Der Name fällt Ihnen auf?“ fragte er.

„Er war mir einst sehr theuer und ist es noch. Es kann sich wohl hier nur um einen Zufall handeln, aber ich werde doch bei der Wirthin zu erfahren suchen –“

„Das ist nicht nothwendig, das können Sie auch von mir erfahren. Der Wirth dieses Hauses ist ein Vetter des seligen Herrn Engelbert, des Heidenbekehrers, der im Wüstensande begraben liegt. Er hat es mir selbst gesagt – das heißt, nicht der Begrabene, sondern der lebendige Herr Pankratius Willmann vom ‚Goldenen Lamm‘.“

„Ein Vetter Engelberts?“ wiederholte Leonie befremdet. „Ich habe nie von einer solchen Verwandtschaft gehört. Dieser Herr Pankratius Willmann ist wohl nach dem Alter seiner Frau zu schließen schon ziemlich bei Jahren?“

„Bewahre, er ist mindestens zwölf Jahre jünger als seine bessere Hälfte, ein angehender Vierziger. Er war eben ein armer Schlucker und sie eine reiche Witwe. Uebrigens ist der Mann gar nicht ungebildet, er hat sogar studiert, wie er mir neulich einmal erzählte, hat es aber dann doch vorgezogen, sich in die Wolle des ‚Goldenen Lamms‘ zu setzen.“

Die Lippen Leonies kräuselten sich verächtlich. „Welch ein Entschluß! Diese gewöhnliche Frau –“

„– hat Geld und kocht ausgezeichnet,“ ergänzte Hagenbach, der eine Genugthuung darüber empfand, daß wenigstens der Vetter des seligen Engelbert nicht auch in idealer Verklärung dastand. „Uebrigens scheint die Ehe der beiden sehr glücklich zu sein, und eine zahlreiche Nachkommenschaft haben sie auch – sehen Sie nur da drunten im Garten springen die sechs kleinen Lämmer herum!“ Er war gleichfalls an das Fenster getreten und wies in das Gärtchen hinunter, wo sich die Sprößlinge des Willmannschen Ehepaares schreiend und lärmend umhertrieben. Durch besonderen Liebreiz zeichneten sie sich allerdings nicht gerade aus, es waren kleine wohlgenährte dickköpfige Geschöpfe mit strohgelben Haaren und schienen wesentlich nach der Frau Mutter gerathen zu sein.

Leonie zuckte die Achseln. „Ich begreife nicht, wie ein gebildeter Mann zu einer solchen Ehe herabsteigen kann. Freilich, der Vortheil regiert jetzt die Welt. Wer fragt noch nach dem Idealen!“

„Herr Pankratius Willmann jedenfalls nicht,“ meinte Hagenbach trocken. „Der hält es mit dem Praktischen, ganz im Gegensatz zu seinem Vetter. Herr Engelbert ließ die Heimath im Stich, um da hinten in Afrika die schwarzen Heiden zu taufen. Nun liegt er im Wüstensand – das hat er davon!“

Leonie nahm eine vernichtende Miene an. „Einen solchen Entschluß vermögen Sie allerdings nicht zu würdigen, Herr Doktor. Engelbert Willmann war eine ideale Natur, die ohne jede Rücksicht auf irdische Vortheile einer höheren Eingebung folgte, und man muß selbst etwas davon in sich tragen, um das verstehen zu können.“

„Nun, ich verstehe das nicht!“ erklärte Hagenbach mit ausbrechendem Aerger. „Ich mache schlecht und recht die Menschen gesund, ohne höhere Eingebung, und bin selbst ein ganz gewöhnlicher Mensch, ohne jede ideale Zuthat – also eigentlich gar nichts werth.“

So war der Streit zwischen den beiden wieder einmal recht hübsch im Zuge, als jetzt die Thür sich öffnete und Herr Pankratius Willmann auf der Schwelle erschien, in seiner ganzen stattlichen Leibesfülle, mit dem breiten rothen Gesicht. Er machte eine tiefe Verbeugung vor dem Arzte, eine zweite vor der Dame am Fenster und begann dann mit seiner sanften, wehmüthigen Stimme:

„Ich hörte eben von meiner Frau, daß die Odensberger Herrschaften hier seien, und konnte es mir nicht versagen, meine Freude und meinen Dank auszusprechen für die Ehre, die meinem bescheidenen Hause widerfahren ist.“

„Gut, daß Sie kommen, Herr Wirth!“ sagte der Doktor. „Eben sprach ich noch von Ihnen mit Fräulein Friedberg –“ Weiter ließ ihn die Scene nicht kommen, die sich plötzlich vor seinen Augen entwickelte.

Leonie war beim Klange der fremden Stimme in jähem Schrecken zusammengefahren, und Herr Willmann zeigte sich nicht weniger erschrocken beim Anblick des Fräuleins. Er knickte förmlich zusammen, seine rothen Wangen erbleichten, ganz fassungslos starrte er die Dame an, die sich ihm rasch näherte.

„Mein Herr,“ begann sie mit bebender Stimme, „Sie tragen einen Namen, der mir nicht fremd ist, und ich höre von dem Herrn Doktor, daß in der That eine Verwandtschaft besteht –“

Sie hielt inne und schien eine Antwort zu erwarten, doch Herr Pankratius neigte nur das Haupt, bejahend, aber so tief daß fast nichts mehr von seinem Gesicht zu erblicken war.

„Ich finde allerdings etwas Verwandtes in Ihren Zügen,“ fuhr Leonie fort, „und auch Ihre Stimme hat eine fast erschreckende Aehnlichkeit mit der Ihres verstorbenen Vetters, dessen Sie sich vielleicht kaum noch erinnern.“

Willmann antwortete auch diesmal nicht, er machte eine verneinende Bewegung, aber ohne das Gesicht emporzuheben.

„Nun, haben Sie denn die Sprache verloren?“ rief der Doktor. „Was soll dies stumme Nicken und Schütteln bedeuten?“

Aber Herr Pankratius verharrte in seinem Schweigen, es schien, als habe er eine förmliche Angst, seine Stimme wieder ertönen zu lassen. Statt dessen warf er einen scheuen Blick auf die Thür, wie wenn er die Möglichkeit eines Rückzuges erwägen würde. Jetzt verlor Hagenbach die Geduld. „Was steckt denn hinter diesem Benehmen?“ rief er mit erwachendem Argwohn. „Ist am Ende die ganze Geschichte mit der Verwandtschaft nicht wahr? Rücken Sie gefälligst heraus mit der Sprache!“

Der von zwei Seiten Bedrängte wußte sich offenbar nicht mehr zu helfen. Er hob die Augen zur Stubendecke empor, genau mit demselben frommen wehmüthigen Ausdruck, der den Doktor zuerst stutzig gemacht hatte, und seufzte. „O Gott, Herr Doktor, der Himmel ist mein Zeuge –“

Ein lauter Aufschrei unterbrach ihn. Leonie wurde plötzlich totenbleich und umfaßte krampfhaft mit beiden Händen die Lehne des vor ihr stehenden Sessels. „Engelbert! Allmächtiger Gott – er ist es selbst!“

Herr Willmann schien in diesem Augenblick den dringenden Wunsch zu hegen, daß sich die Erde zu seinen Füßen öffnen und ihn verschlingen möchte. Da aber ein solcher Eingriff des Himmels nicht erfolgte, so blieb er mitten im Zimmer im hellen Sonnenschein stehen. Doktor Hagenbach aber ließ sich auf den nächsten Stuhl nieder; er hatte starke Nerven, doch diese Enthüllung griff ihn einigermaßen an.

Merkwürdigerweise hatte Leonie trotz dieser für sie vernichtenden Entdeckung in wenigen Augenblicken ihre Fassung wiedergewonnen. Sie fiel weder in Ohnmacht, noch bekam sie Weinkrämpfe; regungslos stand sie da und blickte auf ihren einstigen Bräutigam, der keinen Versuch zum Leugnen machte.

„Leonie, Du hier?“ stammelte er in tödlicher Verlegenheit. „Ich hatte keine Ahnung – ich werde alles erklären –“

„Ja, darum möchte ich auch ernstlich bitten!“ rief der Doktor, der jetzt die Sprache wiederbekam und entrüstet aufsprang. „Was, Sie lassen sich zwölf Jahre lang als verunglückter Heidenapostel beweinen und dabei sitzen Sie äußerst lebendig hier im ‚Goldenen Lamm‘ als glücklicher Ehegatte und sechsfacher Familienvater? Das ist ja niederträchtig!“

„Herr Doktor,“ unterbrach ihn Leonie, noch an allen Gliedern bebend, aber doch mit Selbstbeherrschung, „ich habe mit diesem – diesem Herrn da zu reden. Bitte, lassen Sie uns allein!“

Hagenbach sah sie etwas bedenklich an, er traute dieser Fassung nicht recht; da er jedoch einsehen mußte, daß bei einer solchen Auseinandersetzung die Gegenwart eines Dritten überflüssig sei, so verließ er das Zimmer. So wenig er sich sonst mit dem Horchen abgab, diesmal blieb er ohne alle Gewissensbisse dicht an der Thürspalte stehen. Die Sache, die da drinnen verhandelt wurde, ging ihn doch auch einigermaßen an.

Herr Engelbert Willmann schien sich sehr erleichtert zu fühlen, als der Zeuge des peinlichen Auftrittes fort war, und machte

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 304. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_304.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)