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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

hartnäckig Widerstrebenbe sogar mit Strafen vorzugehen. „Von Strafen,“ sprach er nun weiter, „macht, wie man weiß, die Kirche in ihrer Milde nur im äußersten Falle Gebrauch. Zunächst mahnt, belehrt und bessert sie, wenn sie vermag. Daß Ihr, meine Tochter, durch Euren Verkehr mit einer von der Kirche Ausgestoßenen dem Irrthum schon verfallen seid, konnte mir nach Euren Worten nicht zweifelhaft bleiben. Ich habe das Zeugniß Eurer eignen Lippen, mir und meinem hochwürdigen Amtsbruder hier zum Gehör abgelegt. Die allerheiligste Kirche erachtet es nun an der Zeit, einzuschreiten, um Euer Mündel, sehr werthgeschätzter Herr Oberst, vor weiterem Schaden zu bewahren. Ich habe den Auftrag erhalten, sie der Obhut der Frau Aebtissin von St. Ursula, der hochwürdigen Mutter Dominika, zu übergeben. Dort wird das Fräulein zunächst der Belehrung theilhaftig werden, welche ihr Irrthum erheischt. Auch wird sie dorten am richtigen Orte sein, um durch eifrige Uebungen die Befleckung wieder hinwegzutilgen, mit der sie jetzt behaftet ist. Ich verhehle es Euch nicht, meine Tochter, die Kirche wird Euch Strafen auferlegen müssen. Aber ich zweifle nicht, Ihr werdet das strafende Rohr küssen, sobald Ihr die Milde der Hand merkt, die es führt.“

Er schwieg, und sekundenlang schwiegen auch die übrigen; es war drückend still in dem weiten Gemach. Dann sprach Polyxene, mit der gepreßten Stimme verzehrender Angst: „Ihr wollt mich ins Kloster bringen? Auch gegen meinen Willen – mit Gewalt?“ Sie wandte den Blick hilfesuchend nach dem Obersten von Gouda, flehentlich an seinem gelben unbewegten Gesicht hängend. „Oheim – werdet Ihr das nicht hindern?“

„Schwerlich wird der Herr Oberst es auf sich nehmen wollen, einer von unserem hochwürdigen bischöflichen Oberhirten verfügten Maßregel sich zu widersetzen,“ fiel der Herr Dekan Zindler scharf ein. „Und um so viel weniger, als mein Herr Amtsbruder auch von unserer allerhöchsten Landesfürstin, der Frau Pfalzgräfin Gnaden, mit allen nöthigen Vollmachten versehen ist. Rekurs an die hohe Frau nehmen zu wollen, wäre demnach überflüssig.“

„Nicht sowohl überflüssig, als daß es vielmehr ein ganz unrichtiger Weg wäre, welchen einzuschlagen mir nicht beifallen kann, hochwürdiger Herr.“ Das war der Oberst von Gouda, der sich damit in einem Tone höflicher Belehrung an den Pfarrer wandte. „Die Instanz über mir ist die Obervormundschaftsbehörde, der ich Rechenschaft abzulegen habe. Und es dürften wohl nicht wir, sondern die hochwürdigen Herren selber der dort Rekurs suchende Theil sein, falls ich, wie mir wahrscheinlich ist, meine Zustimmung zu der Entfernung meines Mündels verweigere.“

„Ach – Oheim!“ Das war ein kurzer Ausbruch der Erleichterung von Polyxenens Lippen. So gepreßt war ihre Brust noch immer, daß sie nicht mehr hervorbrachte, während sie sich auf ihrem Sitze nach dem alten Herrn umwandte und ihn, die Hände ineinander faltend, dankbar ansah.

Pater Gollermann nahm die Rede des Obersten mit der ihm eigenen Sanftmuth hin; er neigte sogar wie zustimmend das große Haupt: „Der Eifer, welchen Ihr, Herr Oberst, für Euer Mündel zeigt, steht Euch wohl an,“ sagte et ernsthaft. „Es widerstrebt mit Recht Euerem trefflichen Gemüthe, daß das Fräulein zu einem Schritte, den das Heil ihrer Seele erheischt, genöthigt werde. Aber selbst Euere Skrupel gegen diese heilsame Absonderung werden, denk’ ich, schwinden, sobald das Fräulein dieselbe freiwillig aufsucht.“

Der Oberst sah scharf nach dem Pater hinüber, als wisse er noch nicht, wo jener mit diesem Zuge hinaus wolle. Dann aber ließ er sich vernehmen: „Daß meine Nichte Lust haben sollte, ihren Aufenthalt hier mit dem von Euch genannten zu vertauschen, wird mir schwer glaublich sein. Wäre es der Fall, so bliebe mir nur übrig, sie darauf aufmerksam zu machen, daß sie gut thun würde, die Sorge für ihr Seelenheil mit der um unser Hauswesen hier zu vereinigen und letzterem mit nichten den Rücken zu kehren.“

Da hatte sich der Pater Gollermann mit einem Male erhoben, und alsbald auch sein Gefährte. Wollten sie sich verabschieden? Der Oberst von Gouda, der jetzt ebenfalls steif und lang aufgerichtet stand, ließ in aller Höflichkeit merken, daß er dies erwarte. Zu ihm trat nun aber der Herr Dekan Zindler, der bisher sich wenig an der Unterredung betheiligt hatte, und es war, als ob er das jetzt wieder gut machen wollte. Mit einer Verbindlichkeit, über die auch dieser gewichtige Herr mit dem starken Doppelkinn verfügen konnte, wenn es einmal noth that, brachte er die Rede auf die verdienstlichen Studien des Herrn Obersten in der Fortifikationskunde und in anderen noch subtileren Wissenschaften. So trocken des Herrn von Gouda Antworten auch waren, irgend etwas entgegnen mußte er doch. Auch erwies sich bald des geistlichen Herrn Unkenntniß der allerersten Grundlinien jener Wissenschaften so groß, daß sich von den Lippen des Obersten, fast ohne daß er es inne wurde, einige Sätze einschneidender Belehrung oder vielmehr Berichtigung lösten. Und merkwürdig war die Bereitwilligkeit, mit welcher Seine Hochwürden dieser Belehrung ihr Ohr lieh. Man hätte sagen können; ein Ohr lieh; das andere hatte er nöthig, um nach der Seite hinzuhorchen, wo Pater Gollermann und das Fräulein in einiger Entfernung von ihm und dem Obersten standen. Denn was dort vorging, war jetzt bei weitem die Hauptsache. Die Worte, die dort ziemlich leise gewechselt wurden, konnte er nicht verstehen, das war aber auch nicht nöthig. Es gab da andere Anzeichen fur einen erwünschten Verlauf, wie zum Beispiel, daß des Fräuleins anfänglich unbefangene Stimme mehr und mehr verstummt war. Als man sie dann wieder hörte und zwar in einem wilden Stöhnen, wie es noch niemals zuvor von den Lippen des Mädchens gekommen war, da war dennoch der Zweck seiner Sonderunterhaltung mit dem Vormund erreicht, und es brauchte ihn nicht mehr zu kümmern, daß dieselbe jäh abbrach.

(Fortsetzung folgt.)




Das Ende des Magisters Tinius.

Von Erich Fließ.


Als Eduard Schulte am Anfang dieses Jahres die Geschichte des „Verbrechers aus Bücherwuth“, des Magisters Tinius, in der „Gartenlaube“ (Nr. 5 und 6) erzählte, da war ihm über die letzten Lebensjahre des unheimlichen Geistlichen nicht mehr bekannt geworden, als daß „Verwandte von ihm, die als Schäfer in der Provinz Brandenburg lebten, ihm eine Zufluchtsstätte boten und daß er bei ihnen gestorben ist“. Und doch bleibt über den Ausgang dieses aus so drastischen Widersprüchen sich zusammensetzenden Lebens noch manches zu berichten, was der Veröffentlichung werth ist. Es mag mir gestattet sein, das Fehlende nachzuholen und gewissermaßen den Epilog zu der Verbrecherlaufbahn des schuldbeladenen Mannes zu schreiben. –

Nach seiner im Jahre 1835 verbüßten zwölfjährigen Zuchthausstrafe hatte Tinius, da er wie selbstverständlich seines Amtes entsetzt worden war und seine Angehörigen sich von ihm losgesagt hatten, keinen festen Wohnsitz. Unstet und flüchtig, wie einstmals Kain nach dem Brudermord, streifte er durch das Land, indem er sich bald in diesem, bald in jenem Dorfe Sachsens oder Thüringens aufhielt. Erst im Jahre 1840 faßte er wieder festen Fuß in einem Dorfe der Provinz Brandenburg, das er bis zu seinem im Herbste 1846 erfolgten Tode nicht wieder verlassen hat.

Ungefähr eine Meile von Königswusterhausen, nicht weit von der Dubrow, liegt das Kirchdorf Graebendorf.

Im Frühjahr 1840 erhielt die von der Welt ziemlich abgeschlossene Ortschaft den ersten Chambregarnisten, den sie bis dahin gesehen. Es war der Magister Tinius, der bei einem weitläufigen Verwandten, dem Maurer Schiepan, Quartier nahm. Er bezog dort ein kleines Kämmerchen und hatte daneben Antheil an der gemeinsamen Wohnstube seiner Wirthsleute, wofür er einen monatlichen Miethzins von zwei Thalern zahlte. Für seine Beköstigung hatte der Magister selbst zu sorgen. Sie kam ihn nicht theuer zu stehen. Pfarrer der Gemeinde Graebendorf war damals mein Großvater, und in seinem Hause war der Magister täglicher Gast. Außerdem wurde er je einmal in der Woche von dem Amtmann des Gutes und von dem Küster im Dorfe zu Tische geladen. Es zeugt gewiß von der liberalen Gesinnung und von der Gastfreiheit dieser drei Männer, daß sie einem Manne, der aus dem Zuchthaus kam, an dessen Händen unzweifelhaft Blut klebte, den Zugaug zu ihrem Hause gestatteten, und daß sie ihn bis zu seinem Lebensende unterhielten.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 346. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_346.jpg&oldid=- (Version vom 17.2.2021)