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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

Aus dem Munde der unmittelbaren nächsten Nachkommen meines Großvaters, von denen zwei, eine Tante und ein Onkel, noch am Leben sind, habe ich alles das vernommen, was ich hier mittheile.

Als der Magister in dem Dörfchen erschien, befand man sich über seine Person und seine grauenhafte Vergangenheit nicht ganz im klaren. Viel Zeitungen gab es damals noch nicht, und die ländliche Bevölkerung von Graebendorf dachte nicht daran, für ihre geistige Nahrung und Bildung die sauer erworbenen Groschen hinzugeben. Erst aus dem Munde des Thäters selber erfuhr sie, welcher Verbrechen man ihn bezichtigt und welche Strafe er dafür erlitten hatte.

Natürlich behauptete er ebenso wie früher während der zehn Jahre dauernden Untersuchung und der nachfolgenden Zuchthausstrafe seine Unschuld. Mittelbar aber hat er öfters seine Schuld eingestanden, ja er konnte sogar hin und wieder mit einer gewissen Prahlerei von seiner dunklen Vergangenheit sprechen. So pflegte er namentlich eine Geschichte aus seiner Gefängnißzeit zu erzählen. In der Zelle unter ihm saß ein Schlächter gefangen, der wegen Mordes, begangen an der eigenen Frau, zum Tode verurtheilt worden war. Mit diesem Manne wollte sich Tinius durch Klopfen verständigt und ihm dann in der Melodie eines Kirchenliedes alles das vorgesungen haben, was er noch nachträglich zu seiner Vertheidigung vorbringen sollte. Der zum Tode Verurtheilte habe hiervon Gebrauch gemacht und so sein Leben gerettet!

Als Tinius seinen Wohnsitz in Graebendorf nahm, zählte er bereits sechsundsiebzig Jahre. Er war von kleiner, schwächlicher Statur, dabei trotz der zehn Jahre Untersuchungshaft und der zwölf Jahre Zuchthaus körperlich wie geistig vollständig gesund.

Das graugesprenkelte, noch ziemlich volle Haar trug er hinten in einen Zopf geflochten, den er aber unter dem Kragen seines langen braunen Rockes verbarg. Nichts als die scharfen, stechenden Augen deutete bei ihm auf den Verbrecher hin.

Tinius war, vielleicht von seiner als Schäferjunge verlebten Jugend her, ein großer Freund der freien Natur, und so streifte er viel im Walde und auf den Feldern umher und sammelte allerlei Kräuter, deren nützliche und schädliche Eigenschaften ihm aufs genaueste bekannt waren. Eine besondere Vorliebe hatte er für giftige Pflanzen, aus denen er allerhand gefährliche Säfte und Präparate herzustellen wußte. Wir erinnern uns dabei, daß Tinius seine Opfer öfters erst durch eine dargebotene mit narkotischen Stoffen vermischte Prise betäubte. Die Mischung hatte er jedenfalls selber ausgeklügelt. Daß er dergleichen Künste verstand, verhehlte er durchaus nicht. So erzählte er unter anderem, daß man ihn auch im Verdacht gehabt, er habe vermittelst vergifteter Blumensträuße Damen in der Postkutsche betäubt und sie dann ihrer Barschaft beraubt.

Meine Tante, die damals ein zwölfjähriges Mädchen war, getraute sich infolgedessen niemals, an den aus prachtvollen, selbstgezogenen Rosen gebundenen Sträußen zu riechen, welche ihr der Magister hin und wieder brachte. Sie fürchtete, Gift einzuathmen. Aber ihre Furcht war unbegründet. Der Magister war damals zahm geworden!

Die Dorfbewohner hatten zwar eine gewisse Scheu vor dem alten Manne; aber diese galt mehr dem ehemalige Priester, dem großen Gelehrten, als dem Mörder und Zuchthäusler.

Die erstaunliche Gelehrsamkeit, welche diesen merkwürdigen Mann auszeichnete, war es auch vornehmlich, welche die Theilnahme meines Großvaters und vieler anderer Personen für ihn wach erhielt. Seine Bibliothek, die er sich zum größten Theile mit geraubten Geldern angeschafft hatte, soll, wie schon früher mitgetheilt, bei seiner Verhaftung dreißig- oder sogar sechzigtausend Bände enthalten haben. Als er nach Graebendorf kam, besaß er nicht ein einziges Buch; eine große Kiste mit Prozeßakten, das war das ganze Besitzthum des einstmaligen, wohlhabenden Pfarrers von Poserna. Der Verlust dieser so blutig erworbenen, unwiederbringlich verlorengegangenen Bücherschätze schmerzte ihn bis zu seinem Tode; aber – der Inhalt jener Bände war ihm geblieben. Er hatte ihn aufgespeichert in seinem phänomenalen Gedächtniß, wo er ihm jederzeit zur Verfügung stand. Mein Großvater hatte täglich Gelegenheit, Proben davon zu hören. Auch andere Geistliche, denen mein Großvater bei Kirchenvisitationen und ähnlichen Anlässen diesen außerordentlichen Menschen vorstellte, durften sich davon überzeugen, wie geringfügig und schwach ihr eigenes Wissen gegen das des mehrfachen Raubmörders war, der in den letzte fünfundzwanzig Jahren kein wissenschaftliches Buch mehr in die Hände bekommen hatte!

„Wir sind nicht werth, daß wir ihm die Schuhriemen lösen“ – mit diesem aufrichtigen Geständniß entfernten sich gewöhnlich die Besucher.

Mein Vater, der in jenen Jahren das Joachimsthalsche Gymnasium in Berlin besuchte, ließ sich, wenn er in den Ferien zu Hause weilte, von dem alten Magister im Lateinischen, Griechischen und Hebräischen unterrichte. Oft genug habe ich ihn – er war ebenfalls Theologe – von der Belesenheit, von der schier übermenschlichen Gedächtnißkraft seines Ferienlehrers erzählen hören. In manchem mag die Frau Fama etwas übertrieben haben. So wurde behauptet, daß Tinius seine Muße im Gefängniß dazu benutzt habe, um auf Papierfetzen, die er auf dem Hofe und in den Winkeln des großen Gebäudes zusammengesucht, im Laufe mehrerer Jahre allmählich ein vollständiges aramäisch-chaldäisch-deutsches Lexikon frei aus dem Gedächtniß niederzuschreiben! Die Tinte sollte er sich aus Wasser und Ofenruß bereitet haben! – Ich habe diese Anekdote stets in das Reich der Fabel verwiesen. Ich brauchte mir bloß den dickleibigen Gesenius anzusehen, aus dem ich mich im Schweiße meines Angesichts als stolzer Sekundaner auf die Genesis und die Psalmen präparieren mußte, um aufs deutlichste von der gänzlichen Unmöglichkeit eines solchen Titanenwerkes überzeugt zu sein. Zweifellos handelt es sich hierbei um eine Verwechslung mit der großen Studie über die Offenbarung Johannis, die Tinius im Gefängniß abgearbeitet hat, woselbst ihm übrigens auch Schreibmaterial zur Verfügung stand.

Tinius selbst schrieb seine unverwüstliche Gesundheit, seine geistige Frische, sein untrügliches Gedächtniß dem andauernden Genuß von allerlei Wald- und Wiesentheekräutern sowie von verschiedenen Gemüsen und Gartenfrüchten zu. Von den letzteren bevorzugte er namentlich den Kürbis, den er für ungeheuer gehirnstärkend hielt. Mein Vater erlaubte sich daher einmal während der Ferien einen kleinen Schülerscherz, indem er mit seinem Taschenmesser auf einem Kürbis im Pfarrgarten den Spottvers einritzte:

„Vom Magister, dem weisen,
Laß ruhig dich verspeisen!
Daß er noch länger lebe,
Vorm Tode nicht erbebe!“ . . .

Der Kürbis wuchs zu einem Riesenexemplar aus und ebenso die Inschrift. Der Magister verspeiste ihn, wurde zweiundachtzig Jahre alt, aber – vor dem Tode hat er in seinen letzten Tagen unzweifelhaft doch gebebt. Kurz vor dem Fallen des Vorhangs meldete sich doch das Gewissen bei ihm, obwohl er sonst mit der größten Ruhe und Gelassenheit von seiner blutigen Vergangenheit sprach. Denn bei aller Gelehrsamkeit und philosophischen Ueberlegenheit war Tinius kein sogenannter Freigeist, kein Atheist. Er hielt – was als ein psychologisches Räthsel gelten mag – fest an den Grundwahrheiten des Christenthums und an den Lehren der protestantischen Kirche. In seinen Gesprächen war er stets ernst und überzeugungstreu; nie versäumte er den Gottesdienst; an jedem Sonn- und Feiertag saß er im Kirchenstuhl des Gutes Graebendorf, der ihm vom Amtmann eingeräumt worden war. Dagegen ist er allerdings nie zum Abendmahl gegangen. Es mag sein, daß er innere Gewissensbisse empfand, die ihn von dem Genuß des höchsten Gnadenmittels der evangelischen Kirche zurückhielten.

Abgesehen davon, daß der Magister meinem Vater während der Ferien einige Unterrichtsstunden in den klassischen Sprachen ertheilte, hat er sich in Graebendorf niemals mit einer gelehrten geistigen Arbeit beschäftigt. Nur einmal, es war im Herbst 1843, machte er Anstalten zu einem größeren schriftlichen Aufsatz. Er wollte – die Revision seines Prozesses beantragen, um eine nachträgliche Freisprechung zu erzielen. Auf seine Bitten ertheilte ihm mein Großvater die Erlaubniß, die nothwendigen Auszüge aus den dicken Aktenstößen und die Vertheidigungsschrift im Pfarrhause anzufertigen, da er in seiner Miethswohnung nicht die erforderliche Ruhe zu dieser wichtigen Arbeit finden konnte. Drei Wochen lang bewohnte Tinius so die Giebelstube des Pfarrhauses, die sonst mein Vater in den Ferien einzunehmen pflegte.

Meine – damals vierzehnjährige – furchtsame Tante hat in jener Zeit nicht viel geschlafen. Sie fürchtete immer noch, der unheimliche Gast könnte sich des Nachts in ihr doppelt und dreifach verriegeltes Schlafzimmer einschleichen und sie im Schlafe mit seinem Hammer erschlagen.

Es geschah ihr nichts; aber aus der großen Revisionsschrift wurde auch nichts. Der Magister gab seinen Plan wieder auf.

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 347. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_347.jpg&oldid=- (Version vom 18.2.2021)