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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

hatten sich ihrem Geiste noch gar nicht dargestellt, als jetzt Jammer und Entsetzen sie fürs erste der Sprache, ja fast der Fähigkeit des Denkens beraubten. Der Schmerz und die Schmach, die ihr in ihrer edlen Reinheit widerfuhren, waren so groß und überwältigend – hätte man sie jetzt Glied für Glied zerrissen, die Marter wäre kaum eine Verschärfung solcher Qual, im Gegentheil, sie wäre vielleicht willkommen gewesen! Aber nichts, nichts von dem allem fand den Weg über ihre Lippen.

Der Oberst von Gouda trat jetzt heran; die Herren vermochten es nicht zu hindern und hatten ja nun auch beide ihr Theil gethan. „Nun, Nichte?“ fragte er. Sie sprach noch immer nicht und sah ihn nur aus gequälten Augen wie mit mühsamem Verständniß an, so daß der Pater Gollermann endlich mahnen mußte: „Wollet Euerem Herrn Vormund Eueren lobenswerthen Entschluß mittheilen, meine Tochter!“

Polyxene mußte sich besinnen. Einen Entschluß verlangte man von ihr? Verlangt man von einem Gelähmten, daß er gehen soll? Sie schaute mit leerem Blick in dem Gemach umher, über die Anwesenden hin, und dann erschauerte sie. Müßiges, jammervolles Spiel der Gedanken! Ihr war, als warte sie nur darauf, daß ihr Vetter durch die Thür trete, damit sie ihn fragen könne: „Soll ich von hier fortgehen, Lutz?“

Der Rückschlag dieser Wahnvorstellung war verhängnißvoll. Lutz kam ja nie wieder, und Haus und Hof hier, was alles ihm allein gehört hatte, ohne daß die wie Geschwister Lebenden sich dessen je bewußt geworden wären, das war jetzt ihr Eigenthum! Sie wurde Herrin hier durch seinen Tod, und die Leute sagten – – von Ekel und Grauen geschüttelt, bewegte sie sich wortlos nach der Thür. „Ja so; ich gehe mit den Herren, Oheim,“ sagte sie dann tonlos.

„Also doch – ein Frauenzimmer wie alle,“ murmelte der Oberst halb verächtlich. „Ich aber wünsche und rathe, daß Ihr bleibt, wohin Ihr gehört,“ fügte er dann mit erhöhter Stimme hinzu. Er verstand sie nicht, als sie schaudernd, mit fremd klingender Stimme sagte: „Hierher gehöre ich nicht; laßt mich fort, Ihr thut wohl daran!“

Es war ein Blick milden Triumphes, mit dem der Pater Gollermann den Vormund jetzt streifte. Und der Dekan Zindler sagte, vielleicht ein wenig drohend sogar: „Ich mache den hochzuverehrenden Herrn darauf aufmerksam, daß er eine schwere Verantwortlichkeit auf sich laden würde, wenn er das Fräulein in ihrem Beginnen zu hindern suchte.“

„Nichte, habt Ihr mich gehört?“ sagte der Oberst von Gouda hierauf statt aller Antwort und ging noch einmal auf Polyxene zu, zu nicht geringem Aergerniß für den Dekan, dessen Zuruf er somit gänzlich außer acht ließ.

„Ja, Oheim; aber Ihr müßt mich gehen lassen ... ich kann hier nicht bleiben,“ wehrte Polyxene und sah ihn jammervoll an.

Und nun blieb der alte Sonderling unmuthig und unthätig stehen. Er hatte in ihren Augen das gesehen, was ihn an die Unzugänglichkeit des Wahnsinns gemahnte, und obgleich rechtlich und gescheit, wie man ihn wohl nennen durfte, war er doch aller thätlichen Einmischung in das Schickfas anderer Menschen abhold, bis zur sträflichen Lässigkeit. Und so ließ er es denn auch jetzt geschehen, daß von ihm schied, was er hätte halten und schützen sollen. In der nächsten Minute war das Gemach leer. Die geistlichen Herren hatten zuguterletzt auffallend kurzen Abschied genommen, die unglückliche Polyxene gar keinen. Der Oberst war auf die Schwelle getreten, um hinter ihnen her zu sehen. Mißmuthig ging er jetzt in den leeren großen Raum mit der niedrig lastenden Decke zurück und öffnete eines der dicht aneinandergereihten kleinen Fenster. Und da sah er, was ihn mit Verwunderung erfüllte: drüben an den zwei alten Pappeln, die wie Wächter den thorlosen Eingang zum Hofe der Herrenmühle flankierten, hielt eine geräumige Kutsche. Die geistlichen Herren ließen dem Fräulein höflich den Vortritt und stiegen dann nach ihr rasch ein, wobei der Pater Gollermann seine langen Gliedmaßen mit eigenthümlicher Behendigkeit nach sich zog – wie eine Spinne, dachte der abgünstige Zuschauer grimmig. Der Schlag fiel zu und das Fuhrwerk entfernte sich in ziemlich lebhaftem Gange.

Also eine wohl vorbereitete Abführung, dachte der gelehrte Herr. Und durch die Jesuiten. Das sieht nicht gut aus. Was mögen sie mit dem armen Geschöpf vorhaben? – Jetzt, wo das alte weitläufige Haus so leer war, kam ihm das Fehlen Lutzens neu und frisch ins Bewußtsein. Bisher hatte er das Räthsel seines Verschwindens immer von sich abgewiesen, wenn es herandrängte, halb und halb in der Hoffnung, daß die Zeit eine Lösung und vielleicht noch nicht einmal die schlimmste, bringen werde. Jetzt aber packte es ihn mit einem Male wie Verwunderung über das Unglück, von welchem dieses Haus in den letzten Wochen betroffen worden war. Hier stand er allein – ein Vormund ohne Mündel; was war denn nun seines Amtes hier noch? Unerfreuliches Nachsinnen! Er griff im Geiste schon nach seinem Lieblingsphilosophen Seneca, der drüben auf seinem Büchergestell nahe zur Hand war – welchen Trost der etwa für solche Widrigkeiten des Geschickes bieten werde. Nun hörte er auch im Hause ein Geräusch, und in richtiger Erwägung, daß dies die alte Crescenz sein und daß sie ihn mit Fragen über den Verbleib des Fräuleins behelligen werde, dafern sie ihn hier antreffe, entwich er eilends nach seinem Studierzimmer. Dort einzudringen war der Wirthschafterin streng verboten. Aber so wohl verschanzt sich der Oberst auch in diesem seinem Museum gegen häusliche Störungen halten durfte, heute sollte er doch noch einmal Einlaß geben, und zwar einem Boten und einer Kunde, deren er sich wahrlich nicht versehen hatte.




13.

Das spärliche Dienstpersonal der Herrenmühle, vor allem die Crescenz und der alte Dietlieb, mochten an jenem Abend untereinander die Köpfe schütteln und abenteuerliche und thörichte, aber auch aufrichtig kummervolle Muthmaßungen darüber, daß der alte Bau heute noch einen Kopf weniger beherberge als sonst, austauschen, so viel sie wollten – vom Herrn, dem Obersten von Gouda, wurde ihnen keine Aufklärung zutheil, denn er ließ sich überhaupt vor ihnen nicht mehr sehen. Das Fräulein war spät nachmittags in Begleitung der zwei geistlichen Herren fortgefahren – daß sie heute nicht mehr zurückkehren werde, lag nun, da die Herbstnacht hereingebrochen war, auf der Hand. So schlichen denn die Leutchen, nachdem das Häuflein wie verloren in der gewaltigen gewölbten Küche unter dem ungeheuerlichen Rauchfang zum Abendbrot gesessen, bedrückt in ihre Gelasse, und in dem alten Bau verlosch ein schwaches Lichtchen nach dem andern.

Aber es war, als ob das Haus nicht völlig schliefe, sondern ein blinzelndes Auge weit in die Nacht hinein offen behielte. Das waren in Wahrheit die dicht aneinander liegenden Fenster in dem Studiergemache des Obersten, hinter denen sein Oellämpchen auf dem Pulte fort brannte, manchmal bis gegen den Morgen hin. Er vertauschte gern den Tag mit der Nacht, oder vielmehr, es kümmerte ihn das nicht. Schlaf brauchte er überhaupt nicht viel, und er pflegte desselben auch mitten im Tage, eingeschlossen in sein Museum, wenn je einmal eine Müdigkeit ihn überkam. Um den Eindruck des heute Erlebten zu tilgen, der ihm äußerst lästig war, hatte der Herr von Gouda das Werk des Sieur Sébastien le Prêtre de Vauban vor sich aufgeschlagen, welcher vor noch nicht vielen Jahren als Marschall von Frankreich zu Paris verstorben war. Diesem Werke über Befestigungskunst widmete der Oberst, selber ein großer Meßkünstler und geborener Ingenieur, eine tiefe, aber nicht unbedingte Verehrung, insofern er selber die zur Zeit geltende Vaubansche Befestigungskunst durch einige werthvolle Gesetze bereichert zu haben sich schmeicheln durfte. Zur Zeit freilich lagen diese mühevollen Ausarbeitungen in zierlicher Schrift und mit zahlreichen, aufs sauberste gezeichneten Rissen und Plänen durchschossen, noch auf seinem Pulte, und der erste Schritt sie der Mitwelt bekannt zu geben – nämlich die Anknüpfung mit einem Leydener Buchhändler, welcher die Drucklegung eines so kostbaren Werkes übernommen hätte, womöglich auf seine Kosten – dieser Schritt war von dem Herrn von Gouda bis jetzt noch nicht gethan worden. Er dachte demselben eben wieder einmal nach, wie schon öfters in den letzten Jahren. Er hätte zu diesem Zweck die Reise nach Leyden selber machen müssen. Mit diesem Gedanken spielte er seit längerer Zeit, und heute vertiefte er sich völlig hinein und machte den Plan der Fahrt gen Holland bis in alle Einzelheiten. Da, kurz ehe er fertig war, fiel mit einem Male die zur Seite geschobene Erinnerung an das Geschehniß von heute nachmittag schwer wie eine Last auf ihn nieder und das Plangewebe zerriß. Er konnte sich jetzt nicht entfernen; er mußte warten und zusehen, wo dieser böse Handel Polyxenens hinaus wollte.

Dabei hob er den Kopf und sein Ohr wurde jetzt erst wieder

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 358. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_358.jpg&oldid=- (Version vom 18.3.2021)