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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)


Freie Bahn!
Roman von E. Werner.
(21. Fortsetzung.)


Die Bäume des Parkes rauschten und schwankten im Winde, der jetzt, gegen Abend, zum Sturme zu werden drohte. Er trieb die rothen und gelben Blätter in wirbelndem Spiel durch die Luft und ein grauer wolkenverhüllter Himmel blickte nieder auf die herbstliche Erde.

Maja kam allein zurück von der Ruhestätte ihres Bruders, während Cäcilie noch dort geblieben war; sie hatte sich überreden lassen, vorauszugehen. Das junge Mädchen, mitten im sonnigen Lenz des Lebens, empfand ein geheimes Grauen vor allem, was mit Tod und Grab zusammenhing. Ihr winkte ja das Dasein und das Glück an der Seite eines geliebten Mannes!

Auf dem Rückweg kam sie an dem Rosensee vorüber, wo Oskar ihr damals seine Liebe gestanden hatte. Freilich, heute sah der Ort anders aus als an jenem Maientag im Sonnen- und Frühlingsglanze. Welkes Laub bedeckte den Boden und welkes Riedgras die Ufer des Sees, der im düsteren Lichte des Sturmtages schwarz und unheimlich dalag. Kein süßes Vogelgezwitscher tönte mehr aus den herbstlich gelichteten Gebüschen, alles war stumm und tot, und die Bergwand, die einst so duftig blau aus der Ferne herübergeblickt, hüllte sich heute in dichten Nebel.

Maja war unwillkürlich stehen geblieben; sie blickte starr auf den so traurig veränderten Ort und zog fröstelnd den Mantel fester um die Schultern. Da hörte sie nahende Schritte, und in der nächsten Minute trat Oskar von Wildenrod aus den Gebüschen hervor. „Ich suchte Dich im ganzen Parke, Maja,“ sagte er hastig, „und verzweifelte schon daran, Dich zu finden.“

„Ich war mit Cäcilie an Erichs Grab,“ entgegnete das junge Mädchen. „Sie ist noch dort.“

„Um so besser, denn ich habe mit Dir allein zu reden. Willst Du mich anhören?“

Ohne die Antwort abzuwarten, zog er sie auf die Bank nieder, über welche die Buche ihre halbentlaubten Aeste gespenstisch hinstreckte. Erst jetzt sah Maja, daß er in Hut und Mantel war und daß seine Züge einen seltsam verstörten Ausdruck hatten.

„Es ist doch nichts Schlimmes geschehen?“ fragte sie erschrocken. „Der Papa –?“

„Nicht um ihn handelt es sich, sondern um mich, oder vielmehr um uns beide, Maja, ich habe Dir Ernstes, Schweres zu sagen. Du sollst mir jetzt zeigen, ob Deine Liebe zu mir echt und groß ist. Du liebst mich doch, nicht wahr? Hier an dieser Stelle hast Du Dich einst mir zu eigen gegeben. Ich glaubte Deine Hand nur für das Glück zu fordern, für ein Leben voll Sonnenschein und Freude – hast Du den Muth, auch das Leid mit mir zu tragen?“

Maja war wie betäubt von diesen sich überstürzenden Worten; sie bebte zusammen. „Oskar, um Gotteswillen, was meinst Du? Du ängstigst mich namenlos mit diesen dunklen Andeutungen!“

„Ich verlange ein Opfer von Dir, ein großes schweres Opfer. Wirst Du es mir bringen?“

„Das fragst Du noch? Alles, alles, was Du verlangst!“

„Und wenn ich nun forderte, Du sollest den Vater, die Heimath verlassen und mit mir gehen, weit fort in ein fremdes Land – würdest Du mir folgen?“

„Den Vater? Die Heimath?“ wiederholte das junge Mädchen verständnißlos. „Aber wir bleiben ja hier in Odensberg.“

„Nein! Ich muß fort – wirst Du mit mir gehen?“

„Ich – ich verstehe Dich nicht,“ sagte Maja, an allen Gliedern zitternd. Er legte den Arm um sie und zog sie an sich. Sein Gesicht war totenbleich und in seinen Augen loderte jene düstere Gluth, die sie damals bei der ersten Begegnung so erschreckt hatte.

„Ich habe Dir einmal von meinem früheren Leben erzählt,“ hob er an, „von einer wilden ruhelosen Jagd nach dem Glück, das mich immer wieder zu fliehen schien, bis ich es endlich hier fand, in Deinem Besitz – erinnerst Du Dich dessen?“

„Ja“ flüsterte Maja. Ob sie sich dessen erinnerte! War es doch in jener Stunde gewesen, in der er ihr seine Liebe gestanden hatte!

„Ich konnte die Vergangenheit Deinen reinen Kinderaugen nicht entschleiern,“ fuhr Wildenrod mit sinkender Stimme fort, „und kann es auch heute nicht, aber es liegt ein Schatten darin –“

„Ein Unglück – nicht wahr?“ Die Frage klang angstvoll.

„Ja – ein Unglück, das mich aus meiner Bahn schleuderte und mich dann in Unheil und Schuld verstrickte. Ich hatte das alles von mir geworfen und wollte hier an Deiner Seite ein neues Leben beginnen. Da taucht der alte Schatten wieder auf und droht mir von neuem und droht, Dich, Maja, mir zu entreißen.“

„Nein, nein, ich lasse nicht von Dir, was auch geschehen ist, was auch kommen mag!“ rief Maja heftig, sich an ihn klammernd. „Mein Vater ist Herr in Odensberg, er wird Dich schützen.“

„Dein Vater wird unsere Verlobung zerreißen und uns trennen, unwiderruflich. Der eiserne Mann mit seinen starren Grundsätzen wird Dich lieber tot sehen als an der Seite eines Gatten, dessen Vergangenheit nicht rein ist. Nur ein Mittel giebt es, Dich mir zu retten, ein einziges – aber Du mußt Muth haben.“

„Was – was soll ich thun?“ stammelte sie, willenlos im Banne seiner Augen und seiner Stimme. Er beugte sich tiefer zu ihr hinab und die Worte strömten heiß und leidenschaftlich über seine Lippen. „Du bist meine Braut – ich habe das Recht, Dich zum Weibe zu fordern! Wir fliehen aus Odensberg, und sobald wir die deutsche Grenze überschritten haben, führe ich Dich zum Altare. Dann hat niemand, auch Dein Vater nicht, das Recht, Dich von mir zu reißen, an unserer Ehe scheitert jede Macht – Du bist unwiderruflich mein.“

Oskar von Wildenrod wußte sehr gut, daß eine derartige Trauung vor dem Gesetz ungültig war, aber was kam darauf an, wenn nur Maja sie für gültig hielt, wenn sie sich nur als sein Weib wußte. Dann mußte Dernburg einwilligen, er durfte um der Ehre seines Namens willen nicht zugeben, daß seine Tochter mit einem anderen als ihrem Gatten in der Ferne weile, und die gültigen Formen konnten nachträglich vollzogen werden. War dann auch die Herrschaft in Odensberg verloren, Maja blieb doch die Erbin ihres Vaters, Freiheit und Reichthum hingen an ihrer Hand.

Es war ein unsinniger tollkühner Plan, den die Verzweiflung dem Freiherrn eingegeben hatte, indessen der Plan war ausführbar, wenn Maja zustimmte. Aber sie schreckte jetzt entsetzt auf aus seinen Armen. „Oskar! Allmächtiger Gott, was forderst Du?“

„Meine Rettung!“ rief er stürmisch aus. „Ich bin verloren, wenn ich bleibe – Du allein kannst mich retten. Geh’ mit mir, Maja, sei mein Weib, mein Schutzgeist, und ich will Dir auf den Knien danken. Nur zwei Wege kann ich noch gehen – den einen mit Dir in das Leben, den anderen ohne Dich –“

„In den Tod?“ schrie Maja auf. „Nein, nein, Oskar, Du sollst nicht sterben! Ich gehe mit Dir, wohin Du willst!“

Ein Jubelruf entrang sich seinen Lippen; er überschüttete seine Braut mit leidenschaftlichen Liebkosungen. „Meine Maja! Ich wußte es ja, Du würdest mich nicht verlassen, wenn auch alles mich verläßt. Und nun komm’, wir haben keine Zeit zu verlieren.“

„Jetzt? In dieser Stunde?“ fragte Maja zusammenzuckend. „Ich soll den Vater nicht mehr sehen?“

„Unmöglich! Du würdest Dich verrathen! Wir müssen auf der Stelle fort. Am hinteren Parkthor hält der Wagen, der uns zur Bahn bringt, meine Papiere und eine Summe Geldes trage ich bei mir. Bei der Aufregung, die heute in Odensberg herrscht, bleibt unsere Abreise unbemerkt. Ich werde dafür sorgen, daß man die Spur nicht findet, bis ich Deinem Vater unsere Vermählung melden kann.“

Majas Augen waren unverwandt auf den Sprechenden gerichtet, aber das waren nicht mehr die frohen harmlosen Kinderaugen, es stand ein Ausdruck darin, den Oskar nicht zu enträthseln vermochte.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 366. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_366.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)