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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

es ist besser, ich bereite Sie auf die Nachricht vor, gnädige Frau, mit der man Sie im Hause empfangen wird – Freiherr von Wildenrod ist abgereist.“

„Mein Bruder?“ fuhr Cäcilie in ahnungsvoller Angst auf. „Und Sie sind in Odensberg? Was haben Sie gethan?“

„Eine bittere Pflicht erfüllt!“ entgegnete er ernst. „Ihr Bruder hat mir keine Wahl gelassen, Er war gewarnt durch Sie – er hätte sich mit dem Erreichten begnügen können … Maja durfte nicht geopfert werden! Ich habe ihrem Vater die Augen geöffnet.“

„Und Oskar? Er ist abgereist, sagen Sie – wohin?“

„Das weiß augenblicklich niemand, Ihnen wird er jedenfalls Nachricht senden. Aber Sie verlieren nichts von der Liebe Ihres Schwiegervaters. Er weiß, daß Sie auch nicht der leiseste Vorwurf trifft.“

„Handelt es sich hier denn um mich?“ rief die junge Frau heftig. „Glauben Sie, daß ich ruhig hier in Odensberg leben kann, wenn mein Bruder in der Welt da draußen umherirrt, wieder im Kampfe mit all den unseligen Mächten, die ihn so weit gebracht haben? Sie haben Ihre Pflicht gethan – ja wohl! Was fragt eine eiserne Natur wie Sie danach, wen und was sie dabei vernichtet!“

„Cäcilie!“ unterbrach Runeck sie und der Ton verrieth die ganze Qual, die er bei diesen Vorwürfen ausstand. Aber Cäcilie hörte nicht darauf, sie fuhr mit steigender Bitterkeit fort: „Majas Hand und Liebe hätten Oskar gerettet, ich weiß es, denn in ihm lag eine mächtige Kraft zum Guten wie zum Bösen. Jetzt ist er wieder zurückgeschleudert in das alte Leben, jetzt ist er verloren.“

„Durch mich – das wollen Sie doch wohl sagen?“

Sie antwortete nicht, aber ihre Augen blickten mit bitterem verzweifelten Vorwurf zu dem Mann auf, der finster und ungebeugt vor ihr stand.

„Sie haben recht,“ sagte er herb, „Das Schicksal hat mich nun einmal dazu verdammt, allem, was mir lieb ist, Weh und Schmerz zu bringen. Den Mann, der mir mehr als ein Vater gewesen ist, mußte ich kränken bis in die tiefste Seele hinein; das Herz der armen Maja mußte ich tödlich verwunden. Aber das Schwerste war doch das, was ich Ihnen anthun mußte, Cäcilie, und wofür Sie mich nun verdammen!“

Er wartete vergebens auf eine Erwiderung; Cäcilie verharrte in ihrem Schweigen. Um die beiden her brauste und rauschte es wie damals, als sie am Fuße des Albensteins standen; geheimnißvoll wie aus weiter Ferne kam dies Brausen herangezogen, immer mächtiger anschwellend und dann sinkend und ersterbend mit dem Windeshauch. Aber jetzt wühlte der Herbststurm in halbentlaubten Bäumen, die ersten grauen Schatten der Dämmerung begannen aufzusteigen, und was sich in das Rauschen und Brausen mischte, das waren nicht friedliche Glockenklänge wie damals, sondern fremde und unheimliche Töne. Es war ein fernes verworrenes Geräusch, zu unbestimmt, als daß man hätte unterscheiden können, was es war, denn der Sturm verschlang es immer wieder. Aber jetzt setzte der Wind für einige Minuten aus, da klang es lauter, deutlicher herüber. Cäcilie richtete sich betroffen auf. „Was war das? Kam das vom Hause her?“

„Nein, es scheint von den Werken zu kommen,“ erklärte Runeck. „Ich hörte es schon vorhin.“

Beide lauschten jetzt gespannter, und plötzlich fuhr Egbert auf. „Das sind Menschenstimmen! Das ist das Toben einer empörten Menge! Drüben auf den Werken geschieht etwas – ich muß hinüber!“

„Sie, Herr Runeck? Was wollen Sie dort?“

„Den Herrn von Odensberg schützen vor seinen Leuten! Ich weiß am besten, wie die Arbeiter gegen ihn gehetzt und aufgereizt worden sind, Wenn er sich jetzt zeigt – er ist nicht mehr sicher unter seinen Arbeitern.“

„Um Gotteswillen!“ rief die junge Frau entsetzt.

„Fürchten Sie nichts,“ fiel Runeck ein. „So lange ich an seiner Seite bin, naht ihm keiner. Wehe dem, der es wagen sollte!“

Cäcilie war aufgesprungen; noch vor wenigen Minuten hatte sie geglaubt, dem Ankläger ihres Bruders nicht verzeihen zu können, und jetzt ging aller vermeintliche Haß unter in der Angst um ihn, um sein Leben. Sie flog herbei und umfaßte mit beiden Händen seinen Arm.

„Egbert!“

Er war im Begriff, fortzueilen, und blieb jetzt wie gebannt stehen. „Cäcilie! Sie nennen mich so?“

„Sie wollen die empörte Menge dort drüben herausfordern? O, Sie suchen den Tod!“ rief die junge Frau außer sich. „Egbert, denken Sie an mich und meine Todesangst um Sie!“

Mit einem stürmischen Ausruf des Jubels wollte Egbert die Geliebte an sich ziehen, da fiel sein Blick auf ihre Trauerkleidung, auf das Grab seines Jugendfreundes, und still zog er nur ihre Hand an seine Lippen; aber ein heller Strahl des Glückes blieb in seinem Gesicht zurück, als er leise sagte: „Ich werde daran denken – leb’ wohl, Cäcilie!“ Damit stürmte er fort. –

Die Odensberger Werke waren am Abend der Schauplatz wilder und wüster Scenen geworden. Die Besonnenheit, mit der die Beamten versucht hatten, die Gährung der Arbeitermassen niederzuhalten und bei den Entlassungen Ruhe und Ordnung zu wahren, war vergebens gewesen; es scheiterte alles an der herausfordernden Haltung jener Partei, die Landsfeld im geheimen lenkte und an deren Spitze hier auf den Werken der Arbeiter Fallner stand. Heute hatte der Sozialistenführer es allerdings für nothwendig befunden, selbst nach Odensberg zu kommen, was er sonst vermied; denn er wußte, was diesmal auf dem Spiele stand. Die meisten Arbeiter waren schon zur Besinnung gekommen, mehr als die Hälfte war entschlossen, morgen die Arbeit wieder aufzunehmen und sich den Bedingungen des Chefs zu fügen. Die Wirkung dieses Beispiels auf die übrigen war vorauszusehen. Da galt es, um jeden Preis Gewaltscenen herbeizuführen, welche die Verständigung unmöglich machten. Und das war bereits gelungen.

Die Werke waren erfüllt von wogenden lärmenden Massen, die sich vorläufig noch untereinander bedrohten. Fallner und sein Anhang schleuderten der Gegenpartei wüthende Schimpfworte zu; „Feiglinge! Verräther! Elende Hunde!“ scholl es wild durcheinander, und die solchermaßen Angegriffenen blieben die Antwort nicht schuldig. Sie warfen ihren Genossen vor, sie in den Ausstand hineingehetzt, ihnen einen Beschluß, von dem sie nichts wissen wollten, gewaltsam aufgezwungen zu haben. Einstweilen spielten die Fäuste nur noch eine nebensächliche Rolle, aber jeden Augenblick konnte ein blutiger Zusammenstoß erfolgen und die ganze Wildheit der aufgeregten Menge entfesseln.

Im Direktionsgebäude hatten die Beamten eine förmliche Belagerung auszuhalten. Die Jüngeren waren aus den nunmehr geschlossenen Werkstätten und Bureaus hierher geflüchtet zu ihren Vorgesetzten, die selbst völlig rathlos waren. Die getroffenen Maßregeln hatten sich als wirkungslos erwiesen, man berieth eben in erregtester Weise, was nun zu thun sei.

„Es hilft nichts, wir müssen den Herrn herbeirufen,“ sagte der Direktor. „Er war so wie so entschlossen, im Nothfall persönlich einzugreifen – jetzt weiß ich keinen anderen Rath mehr.“

„Um Gotteswillen nicht!“ fiel Winning ein. „Er darf sich nicht zeigen. Seine Stimmung ist wahrhaftig nicht danach, den Leuten gute Worte zu geben, und tritt er ihnen schroff entgegen, dann ist das Schlimmste zu fürchten.“

„Was wollen diese Menschen da draußen denn eigentlich?“ rief Doktor Hagenbach, der gleichfalls anwesend war, weil er fürchtete, daß seine ärztliche Thätigkeit nothwendig werden könnte. „Wen bedrohen sie denn? Herrn Dernburg? Uns? Oder sich untereinander?“

„Das wissen sie vermuthlich selbst am wenigsten,“ entgegnete der Oberingenieur. „Höchstens wird ihr Führer, der Landsfeld, darüber im klaren sein. Er soll heute in Odensberg sein, da haben wir mit Sicherheit irgend etwas Ernstes zu erwarten.“

„Um so weniger kann ich die Verantwortung noch länger auf mich allein nehmen,“ erklärte der Direktor. „Ich werde unserem Chef melden, daß wir nicht mehr Herren der Lage sind. Er mag dann thun, was er will.“

Er wollte ans Telephon, als auf einmal der Lärm draußen aufhörte. Er verstummte ganz plötzlich, nur noch einzelne Stimmen wurden laut, dann schwiegen auch diese und es herrschte eine Totenstille. Die Beamten eilten an die Fenster, um zu sehen, was es gebe.

„Da ist der Herr!“ rief Winning. „Ich dachte mir, daß er ungerufen erscheinen würde, wenn er das Toben hört.“

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 368. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_368.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)