Seite:Die Gartenlaube (1893) 370.jpg

aus Wikisource, der freien Quellensammlung
Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

„Aber wie sieht er aus!“ fügte Hagenbach leise hinzu. „Ich fürchte, das giebt ein Unglück.“

„Wir wollen die Thüren öffnen, damit er sich im Nothfall hierher zurückziehen kann,“ sagte der Direktor, der gleichfalls herbeigeeilt war. „Er ist ja ganz allein, nicht einmal Wildenrod ist bei ihm. Wir müssen zu ihm. Schnell, meine Herren!“

Die von innen verschlossenen Thüren wurden geöffnet, aber die Beamten konnten weder zu ihrem Chef, noch dieser zu ihnen gelangen, eine dichte Menschenmasse stand dazwischen und hielt den Platz vor dem Hause besetzt. Der Versuch des Direktors und seiner Kollegen, diese lebendige Mauer zu durchbrechen, war vergeblich – die zunächststehenden Arbeiter nahmen eine so drohende Haltung an, daß die Herren zurückwichen, um nicht eine Gewaltthat hervorzurufen, die sich dann sofort auch gegen Dernburg gekehrt haben würde.

Dieser hatte den kleinen Seitenweg benutzt, der vom Herrenhaus nach dem Direktionsgebäude führte, ohne die Werke zu berühren. Niemand hatte ihn kommen sehen, und nun stand er auf einmal wie aus der Erde gewachsen mitten unter seinen Arbeitern. Die ganze Macht seiner Persönlichkeit zeigte sich in diesem Augenblick – sein bloßes Erscheinen wirkte mit zwingender Gewalt auf die eben noch wild erregte Menge, die plötzlich wie von einem Banne gefesselt stand. Aller Augen waren auf die hohe Gestalt mit den finster zusammengezogenen Brauen gerichtet, alles wartete auf das erste Wort aus seinem Munde. Sein Blick schweifte langsam über die Menge hin, die er sonst mit einem einzigen Winke gelenkt hatte und die ihm nun so gegenüberstand. Er sprach noch immer nicht, es war, als wollten die Worte nicht über seine Lippen.

Unglücklicherweise befand sich Landsfeld mit Fallner in unmittelbarer Nähe. Da vor dem Direktionsgebäude, wo man die Beamten eingeschlossen hatte, die verwegensten seiner Anhänger sich zusammenfanden, hatte der Sozialistenführer seine Stellung dort genommen. Das Erscheinen Dernburgs schien ihm weder überraschend noch unerwünscht zu sein, im Gegentheil, es blitzte wie Genugthuung in seinen Augen auf, als er leise zu Fallner sagte, der als eine Art Adjutant stets an seiner Seite war: „Da ist der Alte! Ich wußte, daß er nicht ruhig in seinen vier Pfählen bleiben würde, während hier auf seinen Werken der Teufel los ist. Jetzt kommt die Sache in Fluß!“

Endlich begann Dernburg zu sprechen, seine Stimme war laut und fest, und das tiefe Schweigen ringsum ließ kein Wort verloren gehen. „Was soll der Lärm hier auf den Werken? Es liegt kein Grund dazu vor. Ihr habt den Ausstand angekündigt und ich habe die Werkstätten schließen lassen und halte sie geschlossen. Ihr habt Eueren Lohn erhalten, also geht nach Hause!“

Die Arbeiter stutzten, sie waren es gewohnt, daß der Chef kurz und befehlend sprach, aber diesen verächtlichen eisigen Ton hörten sie zum ersten Mal aus seinem Munde. Sie fühlten das sofort, ohne sich genau Rechenschaft darüber zu geben.

Jetzt hielt Landsfeld den Augenblick für gekommen, um persönlich einzugreifen. „Du folgst mir mit den anderen,“ befahl er kurz, zu Fallner gewendet, und dann trat er ohne weiteres an Dernburg heran. „Es handelt sich hier nicht um die Lohnfrage,“ begann er in herausfordernder Haltung. „Was die Arbeiterschaft von Ihnen will, Herr Dernburg, das ist Ihnen ja mitgetheilt worden. Die ungerechten Entlassungen sollen –“

„Wer sind Sie? Wer giebt Ihnen das Recht, hier mitzureden?“ unterbrach ihn Dernburg, obgleich er den Sprecher ebenso vom Ansehen kannte wie dieser ihn.

„Mein Name ist Landsfeld,“ war die hochfahrende Antwort. „Ich denke, das genügt für meine Berechtigung.“

„Nein, denn Sie gehören nicht zu meiner Arbeiterschaft. Fremde Einmischung dulde ich nicht. Verlassen Sie Odensberg, auf der Stelle!“

Der Befehl klang stolz und verächtlich. Landsfeld trat einen Schritt zurück und maß den Mann, der allein vor ihm stand und so zu sprechen wagte, vom Kopf bis zu den Füßen.

„Einer solchen Aufforderung folge ich nicht,“ versetzte er höhnisch. „Ich stehe hier im Namen meiner Partei, welche die Odensberger Dinge sehr nahe angehen. Kameraden! Erkennt Ihr mich als Euren Vertreter an? Soll ich für Euch sprechen?“

Fallner und die Seinen, die ihrem Führer gefolgt waren und ihn von allen Seiten umgaben, antworteten mit stürmischer Zustimmung, während die übrigen stumm blieben. Landsfeld hob triumphierend das Haupt. „Sie hören es! So sage ich Ihnen denn, daß die Bedingungen, die Sie für die Wiederaufnahme der Arbeit gestellt haben, schmachvoll und entwürdigend sind. Ich erkläre jeden, der sich ihnen fügt, für einen Feigling und Verräther.“

„Und ich erkläre, daß ich mit Ihnen und Ihresgleichen nichts zu thun habe!“ rief Dernburg, durch diese Herausforderung aufs äußerste gereizt. „Meinen Arbeitern habe ich die Bedingungen gestellt, unter denen allein ich die Werke wieder öffne – mit Menschen Ihres Schlages verhandle ich überhaupt nicht.“

Landsfeld fuhr wüthend auf. „Mit Menschen meines Schlages? Wir sind wohl nur Gewürm in den Augen des hohen Herrn? Kameraden! Laßt Ihr Euch das gefallen?“

Er rief nicht umsonst seine Genossen an. Schimpfworte und Drohungen wurden gegen Dernburg geschleudert, der immer fester in der Menge eingekeilt wurde. Von jedem Beistand abgeschnitten, mußte er jeden Augenblick des Aergsten gewärtig sein.

Da wurden in der Ferne Rufe und Stimmen laut, aber nicht wild und drohend, sondern in jubelnder Begrüßung. Jetzt vernahm man sogar ein stürmisches „Hoch“, das sich langgedehnt fortpflanzte und immer näher kam. „Hoch Runeck! Egbert Runeck Hoch!“ erscholl es von allen Seiten, und in den dichtgedrängten Massen öffnete sich ein Weg für den Ingenieur, der rasch herankam.

Athemlos von dem stürmischen Gange, stellte er sich an die Seite Dernburgs mit einer Miene, die verrieth, daß er entschlossen war, mit ihm zu stehen und zu fallen. Er sandte Landsfeld einen drohenden Blick zu, den dieser mit einem spöttischen Achselzucken erwiderte.

„Bist Du wirklich da, mein Junge?“ murmelte Landsfeld. „Nun, wenn Du Dir selbst den Hals brechen willst, dann brauche ich es nicht zu thun.“

Runeck hatte inzwischen eine rasche Umschau gehalten, er erkannte die Gefahr der Lage und ergriff das einzige Mittel, das hier noch Rettung verhieß. „Zurück vom Hause!“ herrschte er den Arbeitern zu, die das Direktionsgebäude besetzt hielten. „Seht Ihr nicht, daß Herr Dernburg zu seinen Beamten will? Ich werde ihn geleiten, macht Platz!“

Die Leute waren betroffen, bestürzt über diese Parteinahme; sie gehorchten und begannen zurückzuweichen. Der Platz vor dem Hause wurde allmählich leer, und war Dernburg erst dort in der Mitte seiner Beamten, so war er auch in Sicherheit. Wenn Runeck dann an seiner Seite blieb, verlief die ganze Sache friedlich. Allein das paßte nicht in den Plan Landsfelds; er griff von neuem ein. „Was soll das heißen?“ rief er scharf und laut. „Unser Abgeordneter nimmt Partei gegen uns und stellt sich auf die feindliche Seite? Hierher, Runeck! Bei uns ist Dein Platz, uns hast Du zu vertreten – oder willst Du etwa zum Verräther werden?“

Das böse Wort „Verräther“ that sofort seine Wirkung, ein dumpfes drohendes Murren wurde laut. Jetzt verlor Runeck die Mäßigung, die er sich bisher schwer genug bewahrt hatte. „Ihr selbst seid Verräther und Schurken, wenn Ihr den Mann angreift, der Euch allen geholfen hat, wo er nur konnte!“ donnerte er. „Zurück von ihm! Wer ihn anrührt, den schlage ich zu Boden!“

Seine Haltung war so wild und drohend, daß alles zurückwich, nur Landsfeld nicht. „Willst Du das vielleicht auch bei mir versuchen?“ schrie dieser und stürzte sich vorwärts auf Dernburg zu, aber in demselben Augenblick sank er auch, von einem wuchtigen Faustschlag Egberts getroffen, mit einem lauten Schrei zu Boden, wo er blutüberströmt liegen blieb.

Die rasche blitzähnliche That entfesselte alle Leidenschaften der wüthenden Menge. Mit einem wilden Geschrei stürzten sich Fallner und seine Genossen auf Runeck, der sich vor Dernburg warf und ihn mit seinem Leibe deckte. Einige Minuten hielt seine Riesenkraft stand gegen die Angreifer, aber das Ende dieses ungleichen Kampfes war vorauszusehen. Da blitzte plötzlich ein Messer in der hoch erhobenen Hand Fallners, ein wuchtiger Stoß und Egbert sank blutend zusammen.

Diesmal aber wirkte die That anders als vorhin, die Menge war wie gelähmt vor Entsetzen. Das Ungeheuerliche des ganzen

Empfohlene Zitierweise:
Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 370. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_370.jpg&oldid=- (Version vom 15.9.2022)