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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

fünf oder zehn Jahren das alles ebenso wiedererschien, wie sie es zuletzt gesehen, die jüngeren vielleicht nur von den älteren beschreiben gehört hatten.

Der Oberst ritt gemächlich durch die kothigen holprigen Straßen, und nicht nur, daß er mit bedächtiger Höflichkeit einen jeden Gruß, der ihm wurde, durch ein Rücken oder Lüften oder gar Abnehmen seines Schlapphutes erwiderte – er gab auch genau acht auf die Gesichter der Grüßenden; ja er verschmähte es sogar nicht, hier und da an einer Straßenecke, halb umgewendet auf seinem Gaule, festzustellen, ob hinter ihm die Leute etwa zusammenschossen, an Jost Bäckers oder Veit Krämers Gadenthür, wie das Volk thut nach dem Vorüberziehen eines, an dessen Fersen ein frisches Gerücht, ihn oder sein Haus betreffend, sich hängt. Er wurde aber nichts dergleichen gewahr. Vor einiger Zeit, als er mit Polyxenen zu jener nicht gewährten Audienz zu Hofe gefahren war, da war es anders gewesen. Er war kein schlechter Beobachter äußerer Dinge, dieser gelehrte Herr, der ja freilich einst dem Gotte Mars auf luftigem Felde gefolgt war und da alle seine Sinne brauchen gelernt hatte. Jenes Mal war ihm hier in der Stadt aufgefallen, wie die Leute mit ganz besonderen Gesichtern nach ihm und Polyxenen gestarrt hatten; denn Lutzens Verschwinden war etwas Neues gewesen und hatte ihn und das Mädchen zu Gegenständen einer erregten Neugier gemacht. Heute aber, nur wenige Tage später, war jenes räthselhafte Unglück schon in die Ferne gerückt für die Menge, und sie blieb gleichgültig bei dem Erscheinen des Obersten. Wäre jener fürchterliche Argwohn gegen Polyxene hier um ihn her, vor ihm und hinter ihm, durch die Gassen geschlichen, so hätten diese Menschen ihn anders angesehen.

Er hielt nun sogar am Hause eines alten Bekannten an, des Büchsenmachers Lorenz, da der Meister, das Käppchen in der Hand, unter die Thür trat. Das war ein ehrbarer Mann, der die Kundschaft der Leyens schon von seinem Vater erblich überkommen und als letzten nun auch den Junker Ludwig bedient hatte, frühe wie dies frische junge Blut zur Jagd die Büchse führte. Der durfte sich nun auch, da er im Gesicht seines alten Gönners eine gewisse Zugänglichkeit zu entdecken meinte, die Frage erlauben: „Noch immer keine Kunde über den Verbleib des gnädigen Junkers, Herr Oberst?“ Und er schüttelte bekümmert den Kopf, als er aus den Mienen des Herrn von Gouda sich die Antwort gleich entnehmen konnte. Unbefangener ehrlicher Antheil hatte aus der Frage geklungen, weiter nichts, und ebenso schlicht und ohne Arg kam heraus, was der Handwerksmann nun noch hinzusetzte: „Da dauert mich, mit gnädigem Verlaub, besonders unser Fräulein Polyxene, Herr Oberst. Die und der Junker waren stets zusammen wie Geschwister. Gebe doch Gott, daß Euer Gnaden bald etwas erfahren und zwar etwas Gutes!“

Dem stimmte der Oberst ernsthaft zu und ritt mit geziemendem Gruße davon, Und mit sich trug er die Ueberzeugung: mehr, als dieser Mann gesagt hatte, wußte er und wußte damit seine ganze Nachbarschaft auch nicht.

Jetzt führte ihn seine wohlerwogene Absicht in eine andere Sphäre; er hatte dem Fräulein von Motz, der Spielgefährtin Polyxenens von der Kinderzeit her und der ehrlichsten Seele von der Welt, seinen Besuch zugedacht. Fräulein von Motz bewohnte mit ihrer verwitweten Mutter ein altes Haus am Markte, welches das Wappen der Familie über der Hausthür zeigte. Sie lebten darinnen mit adligem Anstand, und keinem von den Bürgersleuten wäre es eingefallen, ihnen den standesgemäßen Respekt zu verweigern, obwohl die Damen spärlich bedient waren, der geringen Einkünfte wegen, und in ihrem ganzen Auftreten die Grenze der Aermlichkeit zu berühren zuweilen nicht vermeiden konnten.

Natürlich war dem Obersten dieses alles nicht fremd. Er stieg jetzt am steinernen Tritte der Thür ohne Hilfe vom Pferde, befestigte den Zaum seines ruhigen Thieres in dem rostigen Ring am Pfosten, läutete, nur um auf sein Kommen vorzubereiten, denn die Hausthür war unverschlossen und stand dann mit unerschütterlicher Ruhe in dem modrig riechenden Flur, während oben im Hause ein unterdrücktes Rufen, Fragen, Schlürfen und Regen begann. Von dem allem hatte er aber, seinem Gesicht nach, nicht das Mindeste vernommen als endlich nach langen Minuten das Inventarstück des Hauses, der alte Diener, im ebenfalls hochbetagten Livreerock erschien und ihn empfing. Der führte ihn dann die Treppe hinauf, und dem vorangehenden armen Kerl schien jeder seiner Füße ein Bleigewicht, im Bewußtsein der wenig präsentablen Verfassung, darin die untere Hälfte seiner Person sich befand.

Doch wie gesagt, der Herr von Gouda wußte zu rechter Zeit weder zu sehen noch zu hören, hatte auch wahrlich andere Dinge im Kopfe als die Mängel eines Haushaltes, dessen unverschuldete Armseligkeit er kannte. Auch von diesen Gedanken aber, die ihn eigentlich beschäftigten, verriethen, als er endlich im Staatszimmer den beiden Damen gegenübersaß, seine ernsthaften ledernen Mienen nichts.

Das gute kleine Fräulein von Motz mit dem unschönen Apfelgesicht, sowie die gnädige Mama, die ähnlich, nur wie ein vergessener Winterapfel um Ostern herum, aussah – sie beide hingen mit Spannung an eben jenen Mienen des Herrn von Gouda. Es war diese Spannung aber, wie sein Scharfsinn unschwer errieth, mehr nur auf die Ungewöhnlichkei seines Besuches zurückzuführen, da männiglich wußte, wie selten er seinem Studiergemach abtrünnig wurde. Die Damen hatten sich indessen darein zu finden, daß der seltene Gast einen Grund für sein Kommen ihnen nicht angab. Er erkundigte sich aufs höflichste nach dem Ergehen von Mutter und Tochter, als ob er weiter nichts bezwecke denn einen müßigen Morgenbesuch, bei dem man dies und jenes schwatzt und sich die spärlichen Neuigkeiten erzählt. Wohlgezogen und durch das Hofleben geschult, erleichterten beide ihm nun auch seine Zurückhaltung und thaten, als sei es das Natürlichste von der Welt, die wunderliche Gestalt da sitzen zu sehen. Nach kurzer Frist aber fuhr doch Cordula von Motz heraus: „Wie befindet sich meine liebe Polyxene, Herr Oberst? Und warum seid Ihr nicht im Wagen und seid ohne meine Herzensfreundin gekommen? Sie grämt sich um den Junker Lutz, wie? Aber Ihr dürft sie nicht allzu sehr sich versitzen lassen!“

Die Mutter mahnte freilich mit Wort und Wink, daß Cordelchen des unziemlich heftigen Fragens sich begebe, aber in der gleichen Harmlosigkeit, mit der die Tochter eben gesprochen hatte. Damit war der Hauptzweck von des Obersten Besuch hier schon erreicht, und was nun noch kam, nur mehr ein unvermeidlicher Schnörkel um die feste Linie seines Planes herum. Zunächst einmal verlangte die Frage des wohlgesinnten kleinen Fräuleins eine Erwiderung, und diese war nicht leicht. „Von dem heutigen Befinden meiner Nichte kann ich dem Fräulein keine Auskunft geben, da ich selbige gestern abend zuletzt gesehen habe,“ sagte er jetzt in seiner wunderlichen Weise. „Sie hat mich zu dieser Zeit verlassen, um im Kloster der Ursulinerinnen Aufenthalt zu nehmen –“

Er hätte wohl noch einige einschränkende Worte hinzugefügt, aber schon hatte Cordula aufgeschrieen: „Ins Kloster? Die Polyxene geht ins Kloster? O . . .“ und nun brach sie alsogleich in ein bitterliches Weinen aus und hörte nicht auf ihre Mutter, die ernstlich zu einem gesetzteren Verhalten mahnte. „Cordelchen hat sich schon längst um die Polyxene geängstigt,“ wandte sich die Dame darauf entschuldigend und erklärend an den Herrn von Gouda, und Cordula schluchzte dazwischen: „Ach, meine beste Herzensfreundin ... so schön und so gut und so wohlgemuth! Und die soll Nonne werden – und sich schwarz anziehen und ein langes Gesicht und eine spitze Nase kriegen vom Kasteien! Was ist ihr denn nur durch den Kopf gefahren ...“ Plötzlich wandte sie streitbar und mit einem lobenswerthen Mangel an Eitelkeit dem Obersten ihr schon roth und dick geweintes Gesicht mit dem bethränten Näschen zu. „Wie mögt Ihr als Vormund das nur leiden! Wenn sie vom Grämen um den armen Lutz zu sich kommt, wird es ihr bitter leid sein! Euch ist auch alles recht!“

„Aber, Tochter, Ihr macht mir Schande!“ rief die Mutter in großer Verlegenheit, während Herr von Gouda, ohne alles Mißfallen über diesen warmen Freundschaftseifer, die Gelegenheit ergriff, nunmehr zu Worte zu kommen. Es erfuhren die Damen von ihm, daß die Sache etwas anders liege, als sie gefürchtet hatten. Allerdings – dem Herrn von Gouda beliebte es, diesen Umstand hier bekannt werden zu lassen – hatten es die Jesuiten für nöthig gehalten, über das gefährdete Seelenheil von Fräulein Polyxene ihre besondere Wachsamkeit auszudehnen. Und von ihnen ging die fürsorgliche Absicht aus, das Fräulein eine Zeit lang im Kloster unterzubringen. Davon aber, daß sein Mündel den Schleier nehmen solle, sei, so versicherte er, keine Rede gewesen.

Aber das gereichte der guten Cordel von Motz zu geringer Beruhigung. Der Herr von Gouda merkte nicht ohne innern Beifall, wie bei dieser lieben Einfalt die lebhafte Empfindung des

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 374. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_374.jpg&oldid=- (Version vom 2.4.2023)