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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

In Europa wagte 1830 der irische Grundbesitzer Vandaleur eine Probe. Er vereinigte etwa 40 Arbeiter in eine Gesellschaft unter seiner Leitung. An sie verpachtete er sein Gut Ralahine in der Grafschaft Clare unter genaueren Bestimmungen, welche den Owenschen Grundsätzen nachgebildet waren. Diese Gesellschaft gedieh so sehr, daß nach zwei Jahren die Zahl der Genossenschafter sich verdoppelte. Da verspielte Vandaleur, der die Leitung in der Hand hielt und Besitzer des Grunds und Bodens war, „zufällig“ sein Vermögen, und die Gläubiger bemächtigten sich des auf den doppelten Werth gestiegenen Gutes. Diesen Schlag könnte man zunächst versucht sein, als eine jener Ironien der Weltgeschichte zu bezeichnen, vor denen manchmal der Geschichtschreiber rathlos und schmerzlich bewegt steht. Allein hier wird diese Thatsache als solche der Beweis dafür, daß eben nicht alle Menschen von Natur gut und charakterfest sind – wie Owen es war und auch von anderen immer voraussetzte.

Der Irrthum Owens war der, daß er glaubte, es sei einem Einzelnen vorbehalten, ganze Bevölkerungsschichten, ja gerade die herrschenden, umzubilden. Er hatte einstens in einer großen Rede, in der er sich auch vom Christenthum öffentlich lossagte, unter dem größten Staunen der Anwesenden behauptet, das Gewissen der Menschen, ihr ganzer geistiger Charakter werde gerade so gut fabriziert wie ein Baumwollstoff oder irgend eine andere Ware. Wenn er seinen großen Landsmann und Zeitgenossen Darwin zuvor gefragt hätte, so hätte ihm dieser kühle Forscher vielleicht gesagt: „Ja, aber nur durch die Arbeit der Jahrhunderte,“ und ein Spencer hätte dies in seiner Art bestätigt. „Unser guter Owen litt Schiffbruch,“ sagt darum ein Freund des Mannes, „weil er nicht recht verstand, daß alle Dinge, die leben, sich aus sich selbst heraus entwickeln.“

Trotz alledem bedeuten Owens Gedanken ein erstes Hereinleuchten wissenschaftlicher Klarheit in das bisher noch so dunkle Gebiet der Gesellschaftswissenschaft. Was Owen aber als Mensch seinem Volke und der Welt war, das drücken wir am besten aus mit seinen eigenen Worten, die er kurz vor seinem Tode einem Geistlichen erwiderte: „Ich habe mein Leben nicht fruchtlos verschwendet. Ich habe der Welt wichtige Wahrheiten verkündet, und hat die Welt sie nicht angenommen, so ist es, weil sie dieselben nicht begriffen hat. Ich tadle die Welt darum nicht. Ich war meiner Zeit voraus.“

So war es: die Geschichte des englischen Genossenschaftswesens und Arbeitsschutzes , ja die ganze Gegenwart ist eine glänzende Bestätigung dieses nicht ruhmrednerischen, sondern streng sachlichen und wahren Selbstzeugnisses.


Johann Georg Rapp.

Zu dem Engländer Owen steht in einem bemerkenswerthen Gegensatz ein deutscher Kommunist, der die „Gartenlaube“ schon mehrfach beschäftigt hat, Johann Georg Rapp. (Siehe u. a. Jahrg. 1890, Nr. 47.) Während Owen die Religion verpönte und offen mit ihr brach, finden wir sie bei Rapp als die innere Wurzel des Ganzen und, mit der Persönlichkeit zusammengeschmolzen, auch als Werkzeug der äußeren Leitung. Johann Georg Rapp, 1757 als Bauernkind zu Iptingen bei dem schönen Kloster Maulbronn in Württemberg geboren, zeigte schon früh neben allgemeiner Begabung besondere religiöse Empfänglichkeit und Herrschtalent. Er wurde Leineweber, „Separatist“, d. h. Frommer auf eigene Eingebung und, wie man diese Leute dort zu Lande nennt, „Pietist“, „Stundenhälter“, in welcher Rolle er bald zum großen Leidwesen seines Pfarrers großen Zulauf gewann. Er zeigte sich gegenüber allen Verwarnungen und Strafen der Regierung, die damals auch noch Religionsverweigerungen ahndete, vollkommen empfindungslos, theilte das Abendmahl unter die 12 bis 15 Stunden weit herkommenden Landleute aus, veranstaltete mittels der mitgebrachten Nahrungsmittel großartige Liebesmahle und genoß ein vollkommen patriarchalisches Ansehen. 1803 wanderte er mit seinem Sohn und zwei Anhängern nach Amerika aus, welches er als das von Gott zur Sammlung der Seinen auserwählte Land ansah. Er predigte drüben mit großem, auch finanziellem Erfolg und kaufte schließlich bei Pittsburg 6000 Acker Land. Daraufhin kamen etwa 700 seiner Anhänger aus Württemberg im Jahre 1804 drüben an. Geleitet von jenem Vers der Apostelgeschichte (Kap. 4, 32): „Die Menge der Gläubigen war ein Herz und eine Seele; auch keiner sagte von seinen Gütern, daß sie sein wären, sondern es war ihnen alles gemein,“ gaben sie ihrer ersten Niederlassung den Namen „Harmony“ und gründeten dieselbe auf einen Gesellschaftsvertrag, dem gemäß die Kolonisten ihr Vermögen zusammenlegten und sich zu gemeinschaftlicher Arbeit verpflchteten. Rapp war geistiges Oberhaupt, sieben Aelteste waren ihm beigeordnet. Allein Rapp war ein gestrenger Herr, und etwa 80 Familien sonderten sich bald ab, weil sie zu viel arbeiten mußten. Die verkleinerte Kolonie selbst gedieh jedoch außerordentlich rasch, bis 1815 Rapp sie wegen der ungünstigen Verkehrswege theuer verkaufte und mit den Seinen nach Indiana zog, wo er „New-Harmony“ gründete. Neue Heimathgenossen kamen, auch hier blühte alles prächtig auf, bis Rapp auch diese Kolonie 1824 um 500000 Dollars an Owen und seine Leute verkaufte. In Pennsylvanien wird nun am Ohio die dritte Kolonie, „Economy“, gegründet. Abermals ging die Entwicklung unter Rapp ganz gut von statten. Rapp war der geistliche wie der weltliche Diktator des Ganzen, was sich ganz offen in seinen äußeren Verhältnissen wie in seiner Art, sich zu geben, aussprach. Er speiste auf Silber, hielt 4 Pferde und einen Kutscher, hatte eine Art Thron bei seinen Vorträgen und pflegte offen zu sagen: „Mein Wille ist Gesetz.“ Seit 1807 predigte Rapp gegen die Ehe und duldete keine Eheschließungen mehr, da die Wiederkunft Christi von ihm auf den 15. August 1829 angesetzt worden war. Schon 1820 hatte er sich zum alleinigen Eigenthümer des Gesamtvermögens der Kolonie machen lassen, wobei alle etwa Austretenden im voraus aus ihre Antheile verzichteten.

Der äußerliche Zustand der Kolonie wird 1826 von Herzog Bernhard von Sachsen-Weimar, der sie besuchte, als ein ganz erstaunlich guter geschildert. Die Wiederkunft Christi erfolgte zwar 1829 nicht, wohl aber kündigte sich ein „Gesandter Gottes“ an. Im Jahre 1831 zog er pomphaft in Economy ein und brachte bald eine Spaltung der Gemeinde zuweg, bei der 500 Glieder für Rapp, 178 für „Graf Léon“, alias Bernhard Müller, sich entschieden; letztere gründeten das rasch wieder hinsiechende „Neu-Jerusalem“. In Economy herrschte Rapp bis zu seinem Tode, 7. August 1847, nach ihm Romelius Backer bis 1871 und seit 1871 Jakob Henrici. Infolge mangelnden Zuzugs ist die Kolonie am Aussterben, und es ist wegen des 5 bis 12 Millionen Dollar betragenden Vermögens ein Erbschaftsprozeß in Sicht, der diejenigen Gemeinden Württembergs, aus denen die ersten Kolonisten ausgingen, seit längerer Zeit in nicht geringer Aufregung erhält.

Das Urtheil über Rapp wird immer ein gemischtes sein. Er war halb religiöser Schwärmer, halb eigensinniger, herrschsüchtiger Bauernführer. Seine Geschichte zeigt, wie viel auf das Organisationstalent und die persönliche Macht eines einzelnen Mannes ankommt. Die Welt wollte er nicht verbessern, wohl aber hat er ihr gezeigt, daß religiöse Mächte vorläufig immer noch ein wirksamerer Kitt für die Organisation der Massen sind als die reine Vernunft und das kindliche Zutrauen zu der guten Natur aller Menschen. Insofern sind Owen und Rapp merkwürdige Gegensätze.

Wie es einstens dem Dichter Lenau drüben in der Rappschen Kolonie nicht recht behaglich werden wollte, so ging und geht es noch manchem anderen bis auf diesen Tag. Weder der französische Elan eines Fourier und Cabet, noch die englische Nüchternheit Owens, noch endlich die süddeutsche, mit religiöser Schwärmerei verbundene Zähigkeit Rapps waren imstande, eine neue Gesellschaft aus dem Boden zu stampfen. Sie brachten immer die alten Menschen mit, der Wurm stak schon zuvor im Apfel. Echte und dauernde Begeisterung für Gemeinsamkeit in Arbeit und Genuß kann nur da auf die Dauer wohnen, wo gleichen Ansprüchen gleiche Einsätze entsprechen. Nur Menschen, die sich an Charakter, Bildung, Neigung und Bedürfnissen sehr nahe kommen und gleichzeitig geistig überhaupt sehr hoch stehen müßten, könnten „vielleicht“ das Ideal einer wirthschaftlichen Gemeinschaft im kleinen wirklich durchführen. Da aber solche Menschen leider auch ausgangs dieses Jahrhunderts, wie anfangs desselben, noch sehr selten sind, so bleiben sie vorläufig wohl besser in der Gemeinschaft der übrigen, um an der allmählichen Hebung der unten Stehenden selbstlos zu arbeiten.




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