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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

ihr die trostlose Sachlage zaghaft und stückweise eröffnet hatte, ganz ruhig: ‚Da wird mir denn meine viel gescholtene Gelehrsamkeit den ersten Nutzen einbringen!‘ Am nächsten Tage schon kündigte sie sich in allen drei Zeitungen der Stadt für Sprach-, Musik-, Mal- und Litteraturstunden an, kurz für allen den Krimskrams, mit dem sich die ‚höheren Töchter‘ von heutzutage behängen. Sie hatte die Marianne, die damals zehn Jahre alt war, immer allein unterrichtet und sich dadurch einige Uebung im Lehren erworben. Und der Ruf ihrer Gelehrsamkeit, den ich natürlich thunlichst ausposaunte, auch wohl das Mitleid mit der jähen Veränderung ihres Loses führte ihr wirklich Scharen von Schülerinnen zu, die sich, da in der That viel von ihr zu lernen war, mit jedem Jahre erneuerten und vermehrten. Dazu kam die Miethe für einen Theil des Hauses, den sie nun an andere abtrat, das Kostgeld, das ich ihr zahlte – kurz, sie erwarb für sich und die Tochter nicht nur einen ganz auskömmlichen Lebensunterhalt, sondern legte allmählich ein artiges Sümmchen für alte oder kranke Tage zurück. Und nun hätten Sie sehen sollen, wie die Frau aufblühte! Wie ihr so lange zertretenes, verkümmertes Selbstvertrauen freudig ins Blatt schoß, als sie bemerkte, daß sie wirklich etwas zu leisten, sich und ihr Kind aus eigener Kraft weiterzubringen vermöge, und wie mit dem Selbstvertrauen und dem Respekt, den man ihr nun überall entgegenbrachte, eine ernste Lebensfreudigkeit, ja eine gewisse Liebenswürdigkeit, ein Geltenlassen der anderen, die nun sie gelten ließen, in die verbitterte Frau einzogen! Sie hielt sich freilich nach wie vor von den Leuten fern – ich glaube, zumeist aus eifersüchtiger Liebe zu Marianne. Jeder Blick, jeder Puls in ihr schienen zu sagen: ‚Mein Kind und ich! Ich und mein Kind! Ihr anderen: bleibt draußen!‘

Und auch die Marianne – ich mußte immer wieder daran denken, wie sie an der Pumpe stand und den Zeigefinger gegen die Straßenjungen ausstreckte: ‚Dadeiben!‘ Und wie diese ihrer Schönheit ehrerbietigst den schuldigen Tribut zu Füßen legten.

Nun, es liefen ihr bald ganz andere Jungen nach. Denn sie wurde immer schöner, und das Besondere an ihr, die unsichtbare Isolierschicht, in der sie gerade und abgemessen und doch wieder lieblich und rührend daherging, reizte die Männer. Sie aber sah keinen an; sie hatte aus den Leiden ihrer Mutter eine Art zorniger Geringschätzung gegen unser ganzes Geschlecht geschöpft, das ihr leichtsinnig und zutappend und von einem gröberen Stoff erscheinen mochte, welcher mit dem feinen, aus dem sie und die Mutter geschnitzt waren, keine Gemeinschaft haben konnte. Und sie mochte recht haben damit. Denn als auch ihr Tag kam, als das junge Blut auch in ihr zu Worte kam und dann mit der starken Leidenschaft, die unter ihrer stillen Art schlummerte, nach Glück rief, da hatte ich die bestimmte Empfindung, daß sie an beiden willenlosen gefesselten Händen in ihr Unglück gezogen werde. Andere Leute nannten es freilich ein schier märchenhaftes Glück – wie denn überhaupt die Geschichte von Marianne und ihrer Mutter eigens gemacht scheint, um zu beweisen, daß, was anderen Glück scheint, unser Unglück, und was sie Unglück nennen, unser Glück sein kann.

Ich selbst war der unfreiwillige Vermittler der Geschichte. Ich sehe die Scene vor mir, als hätt’ ich sie gestern erlebt. Es war ein Maitag wie heute und Mariannens zwanzigster Geburtstag. Die Betty hat den Kaffeetisch im Garten decken lassen, und wir beiden Alten sitzen beim Kuchen, essen aber nicht, sondern schauen wie in Verabredung die Marianne an. Sie hat dem Geburtstag zu Ehren und ihrer Mutter zur Freude ihr bernsteinfarbenes Haar gelöst; das wallt ihr nun in tausend Goldfäden um die Schultern, und die Sonne zittert und blitzt darin. Ein Kränzchen von Leberblümchen liegt auf ihrem Kopfe, und das Blau der Blumen macht ihr Haar noch goldener. Sie trägt ein weißes Kleid, wie sie’s immer gern that – es paßt zu ihr, als gehöre es zu der schlanken knospenden Gestalt und der fremdartigen Lieblichkeit des Gesichts. Sie hat den Arm um eine junge Birke geschlungen und blickt zu dem Ahorn im Nachbargarten empor, dessen gelbe Blüthen sich just so golden vom blauen Himmel abheben wie ihr Haar von dem Blau ihres Kranzes. ‚Wie schön das ist!‘ sagt sie leise, und wir Alten denken dasselbe, meinen aber ihren eigenen Anblick. Da höre ich ein leises Geräusch und sehe zur Seite einen jungen hochgewachsenen Menschen stehen und auf das Mädchen starren. Er faßt sich, da ich mich nun erhebe, mit einem Ruck zusammen und tritt auf mich zu. Er hat mir Grüße von seinem Vater zu bringen, der mein Corpsbruder gewesen ist und den Jungen, der hier promovieren will, an mich gewiesen hat. Na, gut; ich lade den Jungen ein – Kurt von Trenk heißt er, und sein Vater ist mein Leibfuchs gewesen, ein Sausewind, aber ein honetter Kerl – neben uns niederzusitzen und mit uns Kaffee zu trinken. Er thut’s nur zu gern, wie ich merke, und mir geht ein infames Gefühl durch den Leib, obschon ich doch kein altes Weib bin, das an Ahnungen leidet. Aber er starrt die Marianne zu toll an – unverschämt, denke ich und wundere mich, daß sie nicht vom Kaffeetisch, an dem sie neben der Mutter Platz genommen hat, aufsteht oder daß sie nicht mit ihrem ernsten großen Blick den seinigen in die Flucht schlägt. Sie thut aber nichts dergleichen, sondern sitzt still da, und das Blut kommt und geht in ihren Wangen, während sie die Augen in die Kaffeetasse senkt und ab und zu blitzschnell hebt und einen scheuen Blick nach dem jungen Menschen hinüberschießt. Und das muß ich ja zugeben: er war des Anschauens wohl werth, und ich habe nie ein gleich schönes Paar junger Menschen nebeneinander gesehen, wie sie in ihrer zarten blonden Schönheit und ihn, brünett, mit einem kühn geschnittenen Rassegesicht und dem Wuchs einer jungen Tanne. Dazu blitzen und funkeln seine Augen von Geist und Lebenslust, und er läßt vor uns – eigentlich natürlich vor Marianne – seinen Geist und Witz wie ein Feuerwerk prasseln und sprühen.

Sie spricht nicht viel, aber ihr Gesicht erhellt sich immer mehr, und endlich ist es, wie ich’s nie gesehen: ganz in Licht und Glanz getaucht wie der Maitag um uns, nur tausendmal schöner. Als dann der Junge nach einer Stunde sich nothgedrungen empfiehlt und mit einer Verbeugung gegen mich und Betty fragt, ob er wiederkommen dürfe, denke ich in meinem Innern: ‚Hol’ Dich der Kuckuck!‘ laut aber brumme ich als wohlerzogener Mensch und Freund seines Vaters: ‚Wird mir sehr angenehm sein.‘ Die Betty sagt gar nichts; sie hat ganz weiße Lippen, und die Hand, die sie auf den Tisch gestützt hat, zittert. Marianne sagt auch nichts und zittert auch, aber Wangen und Lippen glühen ihr wie Purpur, und der Maientrieb schimmert in ihren Augen. Als er dann fort ist, erblaßt sie und schließt gleichsam ihren Kelch zu, als wolle sie seine Blicke darin verwahren. So geht sie die Woche bis zu seinem Wiederkommen in glückseligem Traum herum. Uns Alten aber ist’s beiden gleich zu Muth, ich weiß es, ohne daß wir ein Wort darüber tauschen: wir haben Angst. Nur daß der Betty außer der Angst um diese Wendung in Mariannens Geschick noch die andere ungeheure das Herz zusammenkrampft: ihr Kind, ihr Alles vielleicht auf immer zu verlieren. Aber ihr bindet etwas die Hände: wenn sie Marianne ansieht, wie sie aus einer weißen, vom Licht abgewendeten Blume zur rothen Rose wird, die in seligem Entzücken der Sonne den Kelch darbietet, dann muß sie denken, daß die Mutter kein Recht habe, ihr eigenes Glück dem des Kindes in den Weg zu werfen. Und je höher in der Folge ihre Angst steigt, um so mehr schilt sie sich selbstsüchtig und verharrt in stummer Zurückhaltung. Ich lege denn aber nicht unthätig die Hände in den Schoß, sondern schreibe nach Jena, wo der Kurt Trenk studiert hat, an einen mir befreundeten Professor um des Burschen Leumundszeugniß. Nun, das kommt auch, macht mich aber nicht viel klüger; denn es paßt auf die meisten jungen und reichen Menschen: Liebesgeschichten, flottes Leben, großer Hochmuth, Verschwendung, auch hier und da hervorbrechende Rohheit und Skrupellosigkeit – kurz, was man so heut’ ‚einen schneidigen Kerl‘ nennt. Daneben ein meinem guten alten Professor unerklärlicher Zauber auf die Weiber. Na, ich verstehe den Zauber schon, wenn ich in das schöne Gesicht des Jungen, in seine geistsprühenden Augen und auf die Gestalt sehe, der aus jeder Bewegung und jedem Muskel Kraft und Jugendlust herausspringen, und noch besser, wenn ich den rücksichtslos herrischen Zug um den festen Mund und die grausamen spitzen weißen Zähne betrachte. Denn so wenig ich für die Bestienmoral bin: daß ein Stückchen Bestie im Menschen einen bestrickenden schreckhaften Zauber gerade auf feine und einfache Naturen übt, das habe ich denn doch schon lange vom Leben gelernt.

Doch hatte ich einmal einen freudigen Schreck, weil ich zu sehen glaubte, daß dieser Zauber für die Marianne zerriß und sie ihren Anbeter in seiner wahren Gestalt erschaute.

(Schluß folgt.)


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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_400.jpg&oldid=- (Version vom 14.9.2022)