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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

herauszuquälen! Nichtig war der Vorwand gewesen, es handle sich um ihren Glauben – um den Schaden, den derselbe durch den Verkehr mit der Exkommunizierten genommen haben könne. Aber warum hatte man sie, wenn man sie schuldig glaubte, dem Arme der weltlichen Gerechtigkeit entzogen? In ihr regte sich der stolze Geist ihres adligen Geschlechtes. Offen und laut sollte man sie anklagen, damit sie ebenso sich vertheidigen könnte! Und wenn man ihr nicht glaubte, wenn sie etwa gar unschuldig sterben sollte – ein herzzerschneidendes Weh befiel sie bei diesem Gedanken, und doch fühlte sie zugleich, daß sie den Tod weit, weit der ewigen Einmauerung hier vorziehen würde, auf die es vielleicht abgesehen war. Der Tod würde sie vereinigen mit ihrem Vater ach, mit ihrer Mutter!

Mit der Mutter! Sie hatte sich, so lange sie zu denken wußte, nach dieser Mutter gesehnt. Und jetzt? „Mutter, Mutter – Mütterchen, ach, hilf mir!“ rief sie plötzlich außer sich und rang die wild erhobenen Hände. Die Jugend in ihr stieß diesen jammervollen Hilfeschrei aus, und er bedeutete nicht: hebe mich zu dir empor aus diesem Grauen in das lichte Reich des Friedens, sondern: öffne mir die Riegel, daß ich nur wieder frei sei, daß ich Gottes Luft wieder draußen athme und unbedroht lebe – lebe!

(Fortsetzung folgt.)




Das Theater während der französischen Revolution.

Von F. A. von Winterfeld.

Es mag als eine auffallenbe Erscheinung betrachtet werden, daß jene ungeheure Umwälzung, welche sich vor hundert Jahren auf Frankreichs Boden vollzog, die Pariser Theater, abgesehen von einigen Namensänderungen, in ihrem äußerlichen Bestand so ziemlich unberührt ließ. Bei der großen Vorliebe der französischen Nation für die Bühne, die selbst während der Schreckensherrschaft nicht nachließ, ja, nach den stets gefüllten Häusern zu schließen, eher noch zunahm, hätten wohl hier grobe Eingriffe eine allgemeine Unzufriedenheit erregt.

Desto größer und nachtheiliger aber erwies sich der mittelbare Einfluß der Revolution auf die dramatische Dichtung wie auf die darstellende Kunst. In weit höherem Grade als in irgend einem anderen Lande war die Schaubühne in Frankreich und vorzüglich in dessen Hauptstadt ein Spiegel der Sitten und der sozialen Zustände. Da nun aber die Sitten im Verlauf der Revolution zunehmend verwilderten, die sozialen Verhältnisse immer verwirrter und trauriger wurden, so konnte auch die Rückwirkung auf die Bühne nicht ausbleiben; sie mußte künstlerisch herabsinken, sowohl nach der schöpferischen wie der darstellerischen Seite, wenn auch die materielle Blüthe nicht fehlte. Denn niemals war, wie schon gesagt, die Schaulust des Volkes größer als in diesen schrecklichen Zeiten.

Da die Politik alles beherrschte, so wurden die Theater bald zum allabendlichen Kampfplatz der politischen Parteien. Jede Stelle, welche irgend eine politische Deutung zuließ, wurde, je nach dem Standpnllkt der Zuhörer, mit lärmenden Kundgebungen des Beifalls oder des Mißfallens aufgenommen. Namentlich während der ersten Zeiten der Revolution, wo die königliche Partei noch nicht ganz ohnmächtig war, kam es in den Theatern häufig genug zwischen Royalisten und Republikanern zu heftigen, selbst in Thätlichkeiten ausartenden Kämpfen.

So suchte die Comédie Française, das altberühmte, mit vielen Vorrechten ausgestattete Institut, obgleich in „Théâtre de la Nation“ umgetauft, doch ihr aristokratisches Gepräge zu wahren und benutzte jede Gelegenheit zu royalistischen Kundgebungen. In anderen Theatern geschah das Entgegengesetzte. Als bei einer Vorstellung der Grétryschen Oper „Die unvorhergesehenen Ereignisse“ in der Komischen Oper Madame Dugazon, die der Königin für ihre künstlerische Ausbildung vielen Dank schuldete, bei dem Verse

„Ah que j’aime ma maîtresse!“
(„Ach, wie lieb’ ich meine Herrin!“)

sich gegen die anwesende Marie Antoinette huldigend zu verbeugen wagte und einige anwesende Royalisten dazu Beifall klatschten, da brach ein solcher Sturm auf seiten der viel stärkeren Gegenpartei aus, ein solches Heulen, Zischen und Pfeifen, daß die unglückliche Königin, bis in die Lippen erbleichend, eiligst das Theater verließ und fortan keiner Vorstellung mehr beiwohnte.

Nur in einer allerdings lediglich äußerlichen Beziehung sollte die Revolution einen vortheilhaften Einfluß auf die Bühne ausüben; sie veranlaßte den Bruch mit der herkömmlichen widersinnigen Tracht Bisher waren die Helden und Heldinnen der Tragödie, gleichviel welcher Zeit und welchem Volke sie angehörten, stets im Hofkostüm, gepudert, in Escarpins und gesticktem Frack, in Absatzschuhen und Reifrock, aufgetreten. Die herrschende Abneigung gegen alles Höfische veranlaßte den jungen Talma, eine Abweichung von dieser Unnatur gewissermaßen durch eine Ueberrumpelung zu versuchen. Ohne seinen Kollegen von der Comédie Française vorher etwas davon zu sagen, wagte er es, in Voltaires „Brutus“ in einer römischeu Tunika, mit bloßen Armen und Beinen und ohne Puder zu erscheinen. Wenn auch seine Partnerin, Demoiselle Contat[1], aus Schreck über den „greulichen Anblick“ die Fassung verlor und stecken blieb, so befreundete sich doch das anfänglich befremdete Publikum bald mit der Neuerung und zwang die übrigen Künstler, Talmas Beispiel zu folgen, obschon sie dies mit heimlichem Unwillen thaten, der sich bei nächster Gelegenheit Luft machen sollte.

Man führte Chéniers „Karl IX. oder die Schule der Könige“ auf und Talma gab den feigen und blutdürstigen Tyrannen mit so genialer Kraft, daß das Stück Abend für Abend das Haus bis auf den letzten Platz füllte. Endlich wurde der König – es war zu einer Zeit, wo ihm noch nicht alle Macht genommen war – bewogen, die weiteren Aufführungen des Stückes als aufreizend und gefährlich zu verbieten. Das aber hieß, Oel ins Feuer gießen. Am sogenannten Verbrüderungsfest, am Jahrestage der Einnahme der Bastille, forderte das Publikum ungestüm die Wiederholung des Stückes in der Comédie Française. Vergebens suchte der Regisseur, der sich nicht auf das königliche Verbot berufen mochte, die Krankheit einiger Mitwirkenden als Hinderniß vorzuschieben. Plötzlich erschien Talma im Kostüm Karls IX. auf der Bühne und erklärte, weder er noch seine Kollegen seien krank und wenn man nur wolle, so könne das Stück sofort gegeben werden, was denn auch geschah. Der Unwille des Volks wäre gefährlicher gewesen als der des Königs.

Dieser eigenmächtige und die Kollegen bloßstellende Schritt wurde von diesen – die Comédie Française besaß und besitzt das Recht der Selbstverwaltung – durch mehrmonatige Ausschließung des Attentäters bestraft. Talma aber, der sich dies nicht gefallen lassen wollte, trat mit einigen Anhängern aus dem Verbande der Comédie Française aus und gründete mit ihnen das „Theater der Freiheit und Gleichheit“ in der Rue Richelieu, welches jener gefährlichen Abbruch that, da auf ihm die Werke der ersten zeitgenössischen Dichter, Chénier, Arnault, Legouvé, trefflich dargestellt wurden.

Auch andere neue Bühnen schossen, seitdem die Theaterfreiheit erklärt worden war, in großer Anzahl wie Pilze aus dem Boden, freilich um meistens schnell genug wieder zu verschwinden. In gleichem Maße wuchs auch die Fruchtbarkeit der dramatischen Autoren, denn alle diese Bühnen wollten mit neuen und zwar „zeitgemäßen“ Stücken versorgt sein. Solche entstanden denn auch in Masse, waren aber keineswegs geeignet, der dramatischen Litteratur Ehre zu machen.

Die Spitze dieser Machwerke war, der Strömung der Zeit folgend, stets gegen die Religion, die Kirche, den Papst, die Klöster und nicht am wenigsten gegen das Königthum gerichtet, wie dies schon ihre Titel: „Ein Tag im Vatikan“, „Die Opfer des Klosters“, „Die Päpstin Johanna“, „Der Sturz des Despotismus“, „Die Völker und die Könige“, „Die wahren Sansculotten“, „Das letzte Gericht der Könige“, „Die Emigrantin und der Jakobiner“, „Marats Tod“ etc. genugsam darthun. Die Stücke waren meistens nach Inhalt und Form äußerst oberflächlich, grob und geistlos gearbeitet, fanden aber dennoch, gehörig mit patriotischen Phrasen gespickt, rasenden Beifall. Diese Verrohung der dramatischen Litteratur mußte selbstverständlich auch eine Verrohung der darstellenden Kunst herbeiführen.

  1. Die Künstlerin wurde enthauptet, weil sie einem angeklagten Abgeordneten zur Flucht verholfen hatte. Derselbe hatte sie bei seiner Festnahme verrathen.
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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 414. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_414.jpg&oldid=- (Version vom 19.3.2021)