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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893)

dem Mosaik der Völker- und Menschenrassen, die da alle gekommen waren, um dem großen Feste beizuwohnen. Da plötzlich brach brausender Jubel aus der unübersehbaren Menschenmasse – Grover Cleveland, der Präsident der Vereinigten Staaten, war erschienen. Von seinen Ministern umgeben und begleitet von dem die Uniform eines spanischen Admirals tragenden Herzog von Veragua, stieg er gemessenen Schrittes die Tribüne hinab bis zu dem Halbkreis, in dessen Mitte ein mit der amerikanischen Flagge bedeckter Tisch stand; auf dessen Oberfläche war jener elektrische Knopf angebracht, durch dessen Berührung die Inbetriebsetzung der Ausstellung erfolgen sollte.

Eine Hymne, ein Gebet und eine Deklamation eröffneten die Feierlichkeit, dann hielt der Generaldirektor der Ausstellung, Georg R. Davis, mit weithin schallender Stimme eine Ansprache, in welcher er das Werden und Wachsen des ganzen Unternehmens zeichnete bis zu diesem Augenblick, wo es dem Präsidenten der Union überlassen sei, die Ausstellung zu eröffnen. Cleveland erwiderte mit wenigen Worten und sagte zum Schluß seiner Rede: „So laßt uns denn die Bedeutung, welche dieser Feier zu Grunde liegt, ganz erkennen und den Eindruck derselben nicht verlieren! Wie durch einen Fingerdruck die Maschinerie dieser Ausstellung in Thätigkeit gesetzt wird, so mögen in demselben Augenblick unsere Hoffnungen und Erwartungen diejenigen Mächte wachrufen, welche die Wohlfahrt, die Würde und die Freiheit der Menschheit beeinflussen.“

Mit leichter Hand berührte der Präsident nunmehr den elektrischen Knopf, und in demselben Augenblicke begannen wie durch magische Gewalten getrieben die ungeheuren Maschinen in den Hallen zu arbeiten, stiegen in funkelnden Säulen sprudelnde Springbrunnen empor, donnerten die Kanonen und fiel die Hülle von dem goldschimmernden Standbild der Republik. Zugleich entfalteten sich auf den Zinnen sämtlicher Paläste unzählige Flaggen und Wimpel; dichte Scharen weißer Möven, die man sorgfältig gefangen gehalten hatte, stiegen in die Lüfte, über der Tribüne aber wehten an gewaltigen Stangen, welche auf ihren Spitzen Nachbildungen der drei Karavellen des Kolumbus trugen, das buntfarbige Banner Kastiliens, die weiße, mit grünem Kreuz belegte Fahne des Kolumbus und eine Riesenflagge der nordamerikanischen Republik.

Die Wirkung dieser urplötzlich erfolgenden Verwandlung war eine geradezu zauberhafte, zumal in demselben Augenblicke die Sonne aus dem düsteren Regengewölk hervorbrach und die weißen Paläste, die goldene Statue der Republik und den goldenen Dom des Verwaltungspalastes mit einer wahren Fluth von Licht übergoß.

Aus Hunderttausenden von Kehlen brach lautes Jubelgeschrei, denn in aller Herzen regte sich die Empfindung, daß dies eben erlebte Schauspiel etwas Gewaltiges bedeute, daß dieser Festtag ein Ereigniß sei, werth, von der Geschichte für alle Zeit festgehalten zu werden.




Das Kellnertrinkgeld.

Es sind schon oft Betrachtungen darüber angestellt worden, daß der Kellner eine unglückliche Mittelstellung in unserem sozialen Gefüge einnehme. Täglich, oft ausschließlich bewegt er sich in einer Welt, von der er gesellschaftlich geschieden ist, zwischen Menschen, denen er auch bei regelmäßiger Berührung meist fremd bleibt; in der Kleidung und mit den äußeren Formen der feinen Gesellschaft, mit der Fähigkeit, die eigene und oft auch mehrere fremde Sprachen ziemlich richtig zu gebrauchen, gehört er doch dem Stande der Lohnarbeiter an oder schwebt vielmehr zwischen diesem und den oberen Klassen in der Mitte. Sein Beruf legt ihm in der Regel den Junggesellenstand auf und selbst der Ehemann wird dem Familienleben entzogen. Seine Tages- und Lebensordnung ist derjenigen anderer Menschen gerade entgegengesetzt; seine Arbeit häuft sich am meisten auf die Stunden und Tage, wo andere sich von des Tages und der Woche Last erholen, seine Erholung beginnt oft erst um Mitternacht, sein Sonntag, wenn er überhaupt einen bewilligt bekommt, fällt mitten in die Woche.

Daß alle diese Einflüsse das Los des Kellners zu einem keineswegs beneidenswerthen gestalten, ist begreiflich, und sie wirken um so schärfer, als es unter den heutigen Verhältnissen den wenigsten mehr möglich ist, mit der Zeit sich selbständig zu machen und zur Würde des Wirths emporzusteigen. Der eigentliche Krebsschaden aber, an dem die Stellung der Kellner unter ihren Mitmenschen leidet, ist das abscheuliche Trinkgelderwesen. Es wirft einen dunklen Schatten auf den ganzen Erwerbszweig, den zu lichten und endlich ganz zu beseitigen eine ernste Aufgabe nicht bloß der Kellner selbst, sondern auch des Publikums bleibt.

Daß anständige Leute, die nicht nur ebenso schwer arbeiten wie andere, sondern härter, im hellen 19. Jahrhundert dazu verurtheilt werden, ihr ganzes Einkommen in geschenkten Fünf- und Zehnpfennigstücken von Dutzenden fremder Leute täglich einzusammeln und bei jedem Metallstückchen ihr „Vergelt’s Gott“ zu sagen, weil angeblich der Wirth so besser seine Rechnung findet, ist ein Ueberrest so krasser Barbarei, daß wir an sein Dasein ohne den täglichen Augenschein nicht glauben würden. In der That lebt der Kellner in der Regel fast ausschließlich vom Trinkgeld. Die 10 oder 20 oder 30 Mark, die er als Monatsgehalt bekommt, werden schon durch die vielen Lohnabzüge, die er sich gefallen lassen muß, oft fast auf Null heruntergebracht; da sind die Abzüge für zerbrochenes Geschirr, für das der Kellner in der Regel aufzukommen hat; da sind die Abgaben, die er für Besoldung des Hilfspersonals zu zahlen, und die weiteren, die er in die Kasse des Wirths für Verabfolgung der Bonbücher zu entrichten hat, deren abzutrennende Blätter (Bons) dem Kellner bei Entnahme der Speisen am Büffett als Zahlung dienen. Was ihm an Gehalt dann wirklich ausbezahlt wird, kann auch nicht annähernd hinreichen, um nur die Ausgaben für Wäsche, Frack und Stiefelsohlen zu bestreiten. Ein Beispiel: ein Berliner Wirth beschäftigt 25 Kellner bei einem Monatsgehalt von je 15 Mark, also auf den Tag 50 Pfennig; von dieser Summe gehen ab: für den Serviettenleger täglich 15 Pfennig, für den Messerputzer täglich 10 Pfennig, für Menagenreinigung täglich 10 Pfennig und für jedes Bonbuch noch einmal 10 Pfennig. Ein anderer großer Berliner Gastwirth zahlt monatlich 10 Mark, hiervon ab: 4 Mark 20 Pfennig für den Hausdiener, 2 Mark 16 Pfennig für die Krankenkasse, 1 Mark 40 Pfennig für den Ersatzkellner, 10 Pfennig für jedes Bonbuch und neuerdings noch einen Beitrag für die Altersversicherung. Und wenn solche Fälle immerhin Ausnahmen sein mögen, so giebt es um so mehr andere, in denen überhaupt kein Lohn gezahlt wird, und jedenfalls kommt die Lohnzahlung seit Jahrzehnten immer mehr aus der Mode. „In Berlin,“ heißt es, „wird es nachgerade Sitte, daß der Kellner beim Antritt einer Stellung nach dem Lohn gar nicht mehr fragt.“ Ja es kommt hie und da das „Pariser System“ in Aufnahme, wonach der Kellner an den Wirth noch einen Pacht abgiebt, wie beispielsweise in Hannover der Inhaber eines Gasthofs und einer Wirthschaft sich von den Trinkgeldern jedes Kellners täglich je eine Mark herauszahlen läßt.

Wer einen Maßstab dafür besitzt, welche Rolle im täglichen Leben des Durchschnittsmenschen der Erwerb spielt, wird hiernach ermessen können, was die Ausdehnung des Trinkgelderwesens bedeutet. Die Trinkgelderstimmung ergreift den ganzen Menschen. Sie steigert den Erwerbstrieb bis zu krankhafter Höhe und schafft den Typus des Trinkgeldjägers. Sie gefährdet die Kameradschaftlichkeit zwischen Kellnern eines und desselben Geschäfts, die – trotz der abgegrenzten „Reviere“ – einander ins Gehege kommen; es ist unter den Kellnern sprichwörtlich: zwei Freunde sollen nicht in demselben Hause Stellung nehmen. Sie erzieht zum Lakaiensinn, reizt aber zugleich das Gefühl der sozialen Ungleichheit. Das Entwürdigende dieses Verhältnisses wird auch in den Kreisen des Wirthschaftspersonals selbst empfunden; der Koch, der schon als „Künstler“ auf den Kellner herabsieht, mißachtet diesen auch deshalb, weil er kein festes Gehalt bezieht; das Küchen- und Kellerpersonal, ja selbst der Hausknecht steht weit eher zum Wirth in einem Vertrauensverhältniß als der Kellner und wird zur Spionage gegen die Kellner mit Einschluß des Oberkellners ausgebeutet. Die Unregelmäßigkeit der Trinkgeldernte macht dem Kellner eine geordnete Wirthschaftsführung fast unmöglich; der mitunter mühelose und reichliche Erwerb verführt zur Verschwendung und namentlich zum Spiel, zumal bei denjenigen Kellnern, die das üble Beispiel täglich vor Auge haben.

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Verschiedene: Die Gartenlaube (1893). Leipzig: Ernst Keil, 1893, Seite 418. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Die_Gartenlaube_(1893)_418.jpg&oldid=- (Version vom 20.8.2021)